Sonntag, 30. Januar 2011

Lebendig gefressen

Jemanden zum Fressen gern haben oder sogar zum Anbeißen finden: man sieht, der Kannibalismus ist selbst in Redewendungen des alltäglichen Sprachgebrauchs anzufinden. Nun kommen glücklicherweise die wenigsten Zeitgenossen darauf, ihre Rede auch in die Tat umzusetzen. Doch trotzdem: der Carnivor in uns macht auch vor dem Homo Sapiens nicht halt. Wenn auch nur im Sprachgebrauch und eventuell auch in der Fantasie. Um das am Menschen knabbern dann doch noch irgendwie umzusetzen, kann man sich ja künstlerischer Mittel wie zum Beispiel des Films bedienen, was man gerade in den güldenen Siebzigern ja zugern in Italien gemacht hat. Bis auf den noch recht lauen, eher am Abenteuerfilm orientierten Anfang entstanden so Orgien der selbstzweckhaften Gewaltdarstellung, dass man heute noch nach Genuss dieser Filme die olle Flimmerkiste kopfüber halten muss, damit der Schund sowie die vielen verbrauchten Liter an Kunstblut ablaufen können. Als sich nun 1980 Ruggero Deodato mit seinem Cannibal Holocaust anschickte, den ultimativen Kannibalenfilm abzuliefern, der neben heftigsten Gräueltaten doch tatsächlich auch noch Intelligenz, Sozialkritik und Hintersinn mit sich brachte, dachte sich irgendwo in Italien ein gewisser Umberto Lenzi bestimmt sowas wie "Moment mal, das kann ich aber auch!" Immerhin hat der Onkel Umberto 1972 mit seinem Mondo Cannibale dieses Subgenre innerhalb der Exploitationwelt begründet.

Gott sei Dank hat er sich nicht daran versucht, die Geschichte von Deodatos wüstem Meisterwerk zu kopieren sondern eigene, ganz absonderliche aber auch nicht minder uninteressante Wege zu gehen. Zu Beginn sehen wir, wie ein Menschenbürger asiatischer Abstammung seine Talente im "ins Rohr blasen" zeigt um so an den Niagarafällen und zweimal in New York Menschen mit Pfeilen zu töten, deren Spitzen in Kobragift getränkt waren. Im Zusammenhang mit diesen Morden steht nun die seit gut sechs Monaten vom Erdboden verschwundene Diana Morris, deren Schwester Sheila sich vom staubigen Alabama in den Big Apple begeben hat, um sich über diesen Sachverhalt von einem Polizeikommisaren aufklären zu lassen. Laut der Nachbarin Dianas soll diese in seltsamen Kreisen rund um einen Jonas verkehrt sein, welcher der Leiter einer obskuren Sekte ist, welche sich allen Zwängen der Zivilisation entsagt. In der Tasche des Asiaten, welcher nach seinem dritten Attentat bei der Flucht schnell Bekanntschaft mit einem Lastwagen schloss, fand die Polente zudem einen Super 8-Film der so grauslige Rituale, denen übrigens auch Sheilas Schwesterchen beiwohnt, zeigt, dass diese selbst der von Sheila hinzugezogene Professor diese nicht kennt. Potzblitz. Da braucht man also einen anderen Experten und das am besten vor Ort. Denn immerhin konnte ihr der grauhaarige und um ein seriöses Auftreten bemühte Herr noch dabei helfen, den ungefähren Aufenthaltsort von diesem Jonas ausfindig zu machen.

Die ganze Sause nimmt dann erst irgendwo im tiefsten Neuguinea, dort wird die Sekte um den Prediger vermutet, so richtig an Fahrt auf. Sheila sichert sich die Dienste von Mark, einem vor einigen Jahren aus dem Vietnamkrieg desertierten Amerikaner, welcher sie sicher durch den Dschungel geleiten soll. Der Herr mit Hang zu Whiskey, der erst mit einer größeren Geldsumme überredet werden konnte, sich mit der blonden Dame in das wilde, beinahe unerforschte Unterholz zu  schlagen, ist dann auch bald der Retter in der Not, als man in einem Dorf ankommt und dort einen zwielichtigen Alten antrifft. Nach kurzem Disput hilft der dem Duo mit Proviant, einem Kanu sowie zwei Führern aus, welche für eine fast reibungslose Reise durch die Wildnis garantieren sollen. Als Kenner des Subgenres weiß man allerdings, dass sowas wirklich nie reibungslos von statten geht. Erst macht man die Bekanntschaft mit einem Alligator, kentert und trifft im Dschungel auch schon bald auf die ersten Menschenfresser. Bei der Flucht vor diesen trifft man allerdings auch Anhänger von Jonas. Diese geleiten Mark und Sheila auch in ihr Dorf, in dem man nicht nur auf den irren, mit diktatorischen Zügen ausgestatteten Prediger, sondern auch auf Diana trifft. Doch auch hier sind Konflikte vorprogrammiert. Mit Jonas ist nicht gut Kirschen essen, er führt seine Sekte mit harter Hand, versucht Sheila in seine Griffel zu bekommen, während sie ja eigentlich mit Mark zusammen Diana aus den Fängen dieser religiös komplett zugenebelten Gemeinde zu befreien. Man kann sich vorstellen, das in der grünen Hölle noch ordentlich die Lutzie abgeht.

In der Tat macht Lenzi mit seinem Werk ja keine Gefangene und drückt ordentlich auf die Tube. Längen sind in Lebendig gefressen keine auszumachen, dafür ist diese Chose ziemlich straight umgesetzt. Schon der Epilog mit den drei vom Asiaten verübten Morde kann schon für so manche Erheiterung beim Zuschauer sorgen, so schön hat man noch nie irgendwelche Darsteller abnippeln sehen. Großer Sport, noch größeres Overacting. Auch wenn die drei vom Pfeil getroffenen Mimen nicht wirklich bekannte Gesichter sind, so hat Herr Lenzi doch einige bekannte Namen vor der Kamera versammeln können. Ein kleiner Coup dabei ist die Mitwirkung von Robert Kerman. Der hat im gleichen Jahr im schon angesprochenen Cannibal Holocaust mitgewirkt. Seine weibliche Partnerin ist die ebenfalls recht bekannte Genredarstellerin Janet Agren, deren bekanntester Film wohl immer noch der Fulci-Splatter Ein Zombie hing am Glockenseil (1980) sein dürfte. Mit zwei weiteren Darstellern kann Lenzi sogar noch eine Brücke zu seinem Mondo Cannibale schlagen, da diese schon dort mit von der Partie waren: einerseits der charismatische Ivan Rassimov, andererseits die burmesische Darstellerin Me Me Lai, die seit dem Kannibalenerstling ein kleines Abonnement auf Rollen in den Fressfilmen italienischer Machart zu haben schien. Und wie sie sich alle anstrengen... Eine Pracht ist das! Blondchen Janet darf Aufgrund ihres so braven und zivilisierten Auftretens der Rolle die meiste Zeit über durch die Tücken des harten Lebens im Dschungel so richtig schön leiden. Da werden Augen weit aufgerissen, geschrien und die Beine in die Hand genommen. Während des Aufenthalts in der Sekte darf sie sich auch gerne mal etwas zugedröhnt geben, da der gute Jonas versucht, sie gefügig zu machen. Dabei denkt sich Lenzi für Frau Agren bzw. deren Figur Sheila Dschungelprüfungen aus, auf die RTL für ihre C-Promi-Eventshow niemals kommen würde.

Was Frau Agren nun etwas zu arg auslebt, kaschiert Robert Kerman bestens. Er ist ein durch und durch cooler Held, ein rauher Kerl mit harter Schale. In so einem unnachgiebigen, grausamen Stück Film ist da nur konsequent, den eventuell vorhandenen weichen Kern dieser Figur gar nicht erst anzudeuten. Dieser Mark ist männlicher als alle anderen damals so bekannten kernigen Filmhelden, und da war Chuck Norris zudem auch noch ein kleines Licht. Der Kerl scheint ja geradezu nur aus in Testosteron eingelegtem Fleisch, durchzogen mit einer Extraportion Samenstränge, zu bestehen. Er säuft, er ist zu Beginn Teilnehmer an Armdrück-Wettkämpfen, ein Ex-Soldat, ganz und gar von sich überzeugt, strahlt Erfahrung aus, weiß in jeder Lebenslage einen Weg, also ein ganz clever Kerlchen und darf - wie sollte es anders sein - natürlich auch mit Sheila mausen! Die Männlichkeit der Figur wird in der deutschen Fassung zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sie von Klaus Kindler, der deutschen Stimme von Clint "Dirty Harry" Eastwood, gesprochen wird. Lässig und locker steht, liegt und läuft Kerman nun durch die Szenerie, dass es in seinen Parts förmlich Eiswürfel aus der Glotze regnen könnte. Scheint er der Blueprint für den modernen Typus der "coolen Sau" zu sein? Na gut, vor ihm gab es ja auch Darsteller wie Steve McQueen oder James Dean, die man ja auch so titulieren kann. Nur Lenzi verleiht dieser Figur in seinem Buch ja schon fast den Status der ultimativen coolen Sau. Ein vollkommen überzogener Charakter in einem - wie sollte es auch anders sein - überzogenen Film.

Glänzen kann da schon eher Ivan Rassimov. Der leider schon verblichene Mime ist sowieso eine wahre Bereicherung für jeden Film und so gibt er hier einen Jonas, der - trotz aller angeblicher Frömmigkeit - wahrlich diabolisch rüberkommt. Allein nur schon dieser durchtriebene Blick, den er aufsetzt, kann den Wahnsinn dieser Figur wunderbar rüberbringen. Kleines Manko dabei ist, dass Rassimov ja schon fast zu wenig Zeit im Film bekommt. Eine Schande ist das, wo sich der kroatisch-stämmige Darsteller von seiner besten und somit bösesten Seite zeigen kann. Wenn er mit dabei ist, könnte man sich ja schon fast vor Dank schon mal in seine Richtung verbeugen, so gut macht er seine Sache. Mit dieser ganzen Geschichte um Jonas und dessen Sekte gibt Lenzi seinem Lebendig gefressen zudem eine sehr frische, eigenständige Note, die den Film wie Cannibal Holocaust von den anderen Werken aus dieser Schublade abhebt. Er kommt zwar nicht Ansatzweise in die Nähe von Deodatos Überwerk, doch es ist eben eine gewisse Andersartigkeit, die ihm gut zu Gesicht bekommt. Schließlich kann Lenzi hier auch noch klasse üben, wie das so ist, wenn man Sozialkritik in seine Filme einbaut. Religiöser Fanatismus, blinder Gehorsam der Masse, Manipulation und Machtmissbrauch. Heiße Eisen, komplexe Themen. Herrlich in eine Exploitationsuppe geschmissen und dabei so schlampig verarbeitet, dass es ja schon fast wieder Spaß macht. Wobei man hier etwas zu hart mit der Sache ins Gericht geht. Die Ansätze sind da, erspür- und nachvollziehbar, doch in die Tiefe kann das hier einfach nicht gehen. Dafür richtet das Buch sein Augenmerk doch viel mehr auf eine Nonstop-Actionshow, die man auch geboten bekommt.

Ständig passiert irgendwas und wenn dann doch fast sowas wie Leerlauf aufkommt dann greift Lenzi, leider wie auch so viele andere Kollegen, zum leidigen Thema Tiersnuff. Reale Tötungen wehrloser Kreaturen vor laufender Kamera: ein selbst heute noch in der Szene sehr polarisierendes Thema, worauf der Kannibalenfilm von vielen deswegen auch gemieden, sogar boykottiert wird. Sicherlich ist dies nicht unterstützenswert und verachtenswürdig, doch diese Filme entstanden zu einer Zeit, wo man allerdings noch nichts von sowas wie "Roten Listen" wusste, Tierschutz in den Kinderschuhen steckte und man mit vielem lockerer und ungezwungener umging. Es sind Relikte aus einer vergangenen Zeit und man sollte sich vor Augen führen, dass sowas heute nicht mehr möglich ist. Wenigstens greift man hier noch nicht ganz so oft darauf zurück, anders als in Lenzis einem Jahr später entstandenem Die Rache der Kannibalen. Man hält sich - soweit man das bei so einem heiklen Thema sagen kann - weitestgehend zurück und man montierte sogar eine Szene aus Sergio Martinos Die weiße Göttin der Kannibalen in den Film. Zimperlich ist man trotzdem nicht. In ärgster Weise dürfen die Kannibalen ihrem Werk fröhnen und somit den Hunger stillen. Dabei fällt auf das die meisten Opfer weiblichen Geschlechts sind und mit diesen ganz besonders unbarmherzig umgegangen wird. Einer Mahlzeit wird da sogar die Brust abgeschnitten und dann genüsslich verzehrt. Feministinnen hätten an dem Film sowieso keine Freude. Menschen mit Hang zu einer logisch und sorgfältig aufgebauten Story übrigens auch nicht.

Gerade aber diese Konstruiertheit und die daraus resultierende, schamlose Montage verschiedenster Versatzstücke macht den im Original Mangiati vivi! betitelten Film so herzerfrischend toll. Man kann ihn roh und ungeschliffen nennen. Ein ungehobeltes Stück auf Zelluloid gebannten Wahnsinns, der knietief in der Exploitation watet, daraus auch nie einen Hehl macht und sich wie die wilden auch unglaublich primitiv gibt. Doch auch die niederen Instinkte dürfen hier und da mal befriedigt werden und durch den kleinen Hauch eines Versuchs von Sozialkritik und etwas Anspruch in so etwas hineinzubekommen, schafft das Lebendig gefressen auch wirklich ganz gut. Action, Horror, Abenteuer - soviele Genre kommen hier zum Zug, da wurde wohl auch Lenzi vielleicht hier und da mal schwindelig beim Verfassen des Scripts. Teils ist der Film etwas holprig, gerade bei manchen übergängen in der Story. Es ist zu verschmerzen. Dafür schwelgt man hier in vielen Übertreibungen und versucht die gesamte Sparte des Kannibalenfilms auf die Spitze zu treiben. Dank Cannibal Holocaust ist dies zwar nicht ganz gelungen, aber manches funktioniert doch wirklich gut. Trashige Unglaublichkeiten machen Lebendig gefressen zu wirklich ganz großen Sport, den es zu begutachten gilt. Wo sonst hat man schon mal so eine filmische Schlachtplatte die versucht mit Kritik an Fanatismus im religiösen Bereich und an einigen auch damals schon aktiven Sekten zu koketieren? Lenzi konnte - gerade in seiner Poliziotteschi-Phase noch weitaus bessere Filme drehen - doch auch schon seine Kannnibalenepen können in gewisser Weise echt gut unterhalten. Lebendig gefressen kann dies durchaus.


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