Sonntag, 22. Juli 2018

Settegialli: Un bianco vestito per Marialé

Bei manchen Filmschaffenden kommt man nicht drumherum, wie bereits zuvor die KollegenInnen auf deren bekanntestes Werk zu sprechen zu kommen. Im Falle von Romano Scavolinis Un bianco vestito per Marialé beginne ich meinen Text wie Oliver Nöding oder Alex Klotz und komme zuerst auf Scavolinis berühmt-berüchtigten Nightmare In A Damaged Brain zu sprechen. Wie Oliver tue ich mich selbst schwer mit diesem aus meiner Erinnerung heraus drögen und ungelenken Psycho-Slasher, dessen Bekanntheitsgrad im deutschsprachigen Fandom nicht nur durch die schmoddernden Bluteffekte, sondern auch durch seinen Status als beschlagnahmter Film herrührt. Obwohl ich vor ein paar Jahren, bei der letzten Sichtung von Scavolinis "Opus Magnum", für mich entschied, dass ich in diesem Leben nicht mehr warm damit werde, bekommt dieses nach der Sichtung seines Un bianco vestito per Marialé eine erneute Chance. Nach der endlich erfolgten, bislang prokrastinierten Sichtung seines Giallo und dem auf der DVD von Camera Obsura befindlichen Interview mit dem Regisseur entpuppt sich Scavolini als interessanter und eigenwilliger Filmemacher.

Eigenwillig kann man Un bianco vestito per Marialé ebenfalls nennen. Bevor man auf die DVD (oder Blu Ray) aus dem deutschen Raum zugreifen konnte, war Scavolinis Frühwerk eher eingefleischten Alleskennern vorbehalten, die sich nicht davor scheuten, italienische Importe ohne große Sprachkenntnisse über die Netzhaut flimmern zu lassen. Circa ein Jahr vor Release von Camera Obscura erlangte der Film in Fankreisen wohl durch eine euphorische Besprechung bei Dirty Pictures mehr Bekanntheit und dessen von Fans bearbeitete, mit eigenen Untertiteln versehene Digitalisierung einer italienischen VHS kursierte auf entsprechenden Grauzonenseiten für Liebhaber des etwas anderen Films und dürfte bei den Giallo-Fans rege Verbreitung gefunden haben. Das brachte ein leichtes Gefühl damaliger Zeiten mit sich, von Underground, in denen sich Kenner in geheimen Zirkeln diese kleinen, vergessenen Perlen gegenseitig mit wissendem Blick in die Taschen schoben. Müsste man für Scavolinis Werk eine Empfehlung aussprechen, so würde sie "für Kenner" bzw. "für Fortgeschrittene" lauten.

Auch deswegen setzte ich Un bianco vestito per Marialé auf meine Settegialli-Liste. Die charakteristischen Giallo-Merkmale lassen lange auf sich warten; der Film selbst bewegt sich am Rande des Genres, außerhalb von dessem Mainstream mit seinen phantomhaften Mördern, bewaffnet mit blitzender Klinge, die in schwarzen Handschuhen dunkle Ecken schwach erhellt. Scavolini eröffnet den Film zuerst konventionell: ein Pärchen gibt sich im Wald zärtlichem Liebesspiel hin, bevor dieses jäh unterbrochen wird. Ein Mann, besser gesagt der Gatte der Frau die sich mit ihrem jungen Liebhaber zuvor noch verlustierte, erwischt die beiden inflagranti, streckt beide mit einem gezielten Schuss und sich selbst nieder. Ein kleines Mädchen, wie wir schon früh erfahren die titelgebende Marialé, erlebt hautnah, wie sie Vater und Mutter durch dieses Familiendrama verliert. Scavolini verzichet damit auf jegliche Murder Mystery und Whodunnit-Entwicklung. Die weitere Handlung lässt, trotz Aussparung des später sein blutiges Handwerk verrichtenden Mörders, schnell erahnen, wer die Gäste von der nun erwachsenen Marialé und ihres Mannes Paolo auf deren Schloss umbringt.

Als erwachsene Frau fristet die Protagonistin ein Einsiedlerleben. Paolo hält sie, laut seiner Aussage zur ihrer eigenen Sicherheit, auf dem gemeinsamen Schloss fest und verzagt ihr jeglichen sozialen Kontakt. Marialé gelingt es heimlich einige frühere Freunde des Ehepaars, darunter ihre frühere Jugendliebe Massimo, einzuladen. Der davon sichtlich verärgerte Paolo macht gute Mine zum bösen Spiel und während des Abends treten nicht nur die schwelenden Differenzen zwischen den Besuchern und ihren Gastgebern hervor, nach einer orgiastischen Party geschieht ein Mord. Misstrauen und Anschuldigungen führen dazu, dass die Suche nach dem unter den Gästen befindlichen Mörder sich schwierig gestaltet. Bis zu diesem Punkt gestaltet Scavolini den Film als augenscheinlich psychedelisches, surreal gefärbtes Sammelsurium einzelner Szenen, die schwer zueinander passen wollen. Ursprünglich planten die Produzenten, dass Un bianco vestito per Marialé ein gothischer Horrorfilm mit vielen blutigen Szenen sein sollte. Scavolini, schockiert von der schlechten Qualität des Scripts, überarbeitete es beinahe komplett und machte daraus ein mit Genrefilmelementen arbeitendes, wildes Psychogramm einer traumatisierten Seele.

Durch die für den Zuschauer klaren Zuordnung, dass es sich bei dem kleinen Mädchen zu Beginn um Marialé handelt, welche logisch daraus folgernd ein traumatisches Erlebnis hatte, bleiben trotz der Gäste, die sich untereinander nicht grün sind und auf erzählerischer Ebene dafür sorgen sollen, weitere Verdächtige zu schaffen, keine Zweifel daran, dass im Endeffekt Marialé selbst die todbringende Person ist. Üblicher für den Giallo ist bekanntlich, dass eben dieses entscheidende Detail ausgespart wird, um im finalen Akt die Auflösung und den bisher unbekannten Täter zu präsentieren. Dies wiederholt Scavolini in Nightmare In A Damaged Brain und lässt diesen frühen Slasher mehr in die Nähe von Bill Lustigs Maniac rücken. Wie dort interessiert sich Scavolini für den geschundenen Geist des Täters, als für eine schlüssige oder Spannung erzeugende Krimihandlung. Das Schloss, Marialés Gefängnis, wächst zur Metapher für die seelische Isolation der Protagonistin. In der intensiv gestalteten Szene, in der die Figuren des Films in den Keller absteigen um dessen dunklen Gewölbe zu erkunden, ist die verfallene, von Spinnweben und Staub umgarnten Einrichtung Sinnbild für den psychischen Verfall der Hauptfigur.

Scavolini mag sich teils küchenpsychologischer Gedankengänge bedienen, wenn er seine Hauptfigur dem immer weiter durchschimmernden Wahnsinn anheim fallen lässt und die Figuren mit Genreklischees zeichnen; den Film zeichnet eine dichte, eigenwillige Atmosphäre aus, mit der er, dem Handlungsort und Setting geschuldet, mehr als einmal die Wege des Gothic Horrors beschreitet. Dazwischen pfeift Scavolini völlig auf schlüssige Handlungsstränge, gestaltet eine ausschweifende Orgie dem damaligen Zeitgeist folgend psychedelisch und lässt den Zuschauer die berauschende Stimmung der Party spüren. Die dortigen Kostümierungen der Besucher charakterisieren diese gleichzeitig und lassen gleichzeitig die Vermutung zu, dass Scavolini mit dieser Szene gesellschaftliche Verhältnisse aufs Korn nimmt und anprangert. Un bianco vestito per Marialé gestaltet sich in seinen besten Momenten so subversiv, dass die folgende gialloeske Gestaltung an die Handlung rangeklatscht wirkt. Mit viel Tempo wird die Zahl der Gäste durchaus garstig und blutig dezimiert. Einerseits ist es ebenso wild wie der bisherige Film, andererseits spürt man eine gewisse Lieblosigkeit, wie die Giallo-Elemente in die Handlung eingeflochten werden. Das rührt nicht von ungefähr: im Interview gibt Scavolini an, dass er sich nicht sonderlich für die ursprüngliche Geschichte interessierte.

Das Un bianco vestito per Marialé mit diesen konventionellen Szenen arbeitet, könnte - das verrät der Regisseur nicht - ein letztes Zugeständnis an das alte Script und die Produzenten des Films sein. Vielleicht tat er sich mit seiner Herangehensweise an die Geschichte selbst keinen großen Gefallen. Seine Konzentration auf das Innenleben Marialés ist ein interessanter Ansatz, der bedingt gut funktioniert, sich großteils - da gehe ich mit Oliver Nöding konform - zu stark den Regeln des Genres unterwirft, um weiter in die Tiefe vorzudringen. Als Genrefilm bzw. Giallo selbst, fehlen ihm die entscheidenden Spannungsmomente. Alles rauscht am Zuschauer vorbei, ist hübsch anzusehen, bietet durch seine eigenwillige Herangehensweise an die Genretraditionen das gewisse Etwas, dass man dran bleibt, das Ende selbst ist trotz seiner finsteren Art, in der sich die eingängliche Tragödie unter verschobenen Umständen wiederholt, bleibt von einer gewollten Durchschlagskraft wie der gesamte Film verschont. Kennt man von seinem Regisseur nur dessen bekanntestes Werk, wird man Aufgrund seiner vorhandenen Qualitäten sehr überrascht und dankt letztendlich auch den Menschen bei Camera Obscura, dass sie Un bianco vestito per Marialé mit ihrer Veröffentlichung vor der Vergessenheit bewahrt haben.
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