Dienstag, 26. Februar 2019

Elizabeth Harvest

Das Jetzt, der augenblickliche Moment, rinnt uns wie Sand durch die Finger. Diesen festzuhalten, damit er nicht nur eine über die vergehende Zeit verblassende Erinnerung in unserem Gedächtnis bleibt, ist eine der vielen Prämissen der darstellenden Kunst. Gemälde, Fotografie, Filmaufnahme: sie sind eine visuelle Unterstützung unseres Gedächtnisapparats, mittels denen man die eigenen Erinnerungen wach rütteln kann. Selbst die Videoproduktion, die uns vom erlebenden Protagonisten der Szenerie zum Beobachter degradiert, schafft es nicht, diesen einen Moment exakt gleich zu reproduzieren. Sie bleiben einmalig; ganz gleich, ob es sich um wenige Sekunden, Minuten oder zeitlich längere Abschnitte handelt. Die in der Vergangenheit erfahrenen Augenblicke, die gefühlten Emotionen, das eigene Be- und Empfinden bleiben Geschichte. Das kollektive Bewusstsein, die Gesellschaft, flüchtet sich neben einzelnen Menschen im nostalgisch rückwärtigen Blick gerne in diese zurück, was man aktuell in der gegenwärtigen Popkultur mit dem x-ten 80er-Trend erfährt.

Elizabeth Harvest behandelt die Flucht eines Menschen in die eigene Vergangenheit bzw. dessen Versuch, diese Zeit mittels modernster Technik wieder aufleben zu lassen. Im Mittelpunkt steht der geniale wie schwerreiche Wissenschaftler Henry, welcher mit seiner jungen und frisch angetrauten Gattin Elizabeth auf dem Weg zu seinem luxuriösen wie modernen Anwesen in den Bergen ist. Es ist ein Traum vom edlen Ritter, dem die Schönheit den Atem raubt, damit er sie aus allem gewöhnlichen und hässlichen raubt, der für die junge Frau in Erfüllung geht, wie sie Eingangs erklärt. Das von nun an gemeinsame Anwesen entpuppt sich beim Rundgang als ein neuzeitliches Märchenschloss, samt Bediensteter in Gestalt von Claire und dem blinden Oliver, in dem sich Elizabeth entfalten darf. Einzig eine Tür im Keller muss verschlossen bleiben. Getrieben von ihrer Neugier, gibt sie dieser während einer Geschäftsreise ihres Mannes nach und betritt den verbotenen Raum und macht eine schreckliche Entdeckung.

Der nicht unentdeckt bleibende Ausflug in Henrys Labor lässt den kultivierten Wissenschaftler zu einem blutrünstigen Blaubart werden und ist Auftakt für die mit einigen Wendungen gespickte Geschichte über Henry, der seinen persönlichen Moment der Momente um jeden Preis wieder aufleben lassen möchte. Regisseur und Drehbuchautor Sebastian Gutierrez webt in seine freie Interpretation des französischen Märchens "Blaubart" mit Geschick leichte Science-Fiction- und Mystery-Elemente ein, die im Verlauf des Films zu dessen Stützpfeilern werden. Damit wendet sich das Script dem schnell als Antagonist wahrgenommenen Henry zu und lässt ihn - anders wie das Märchen - nicht zur simplen Manifestation des Bösen werden. Ihm wird ein dramatischer Background geschenkt, der ihn zum makaber-romantischen Tragikhelden und Mad Scientist macht, dessen Rettungsversuch seiner großen Liebe die Grenzen des moralisch vertretbaren sprengen lässt. Love made him do it. Elizabeth Harvest erlebt man wie eine phantastische Moritat, die uns die Schattenseiten dieser großartig schönen wie überwältigenden Emotion zeigen möchte.

Der düster-romantische Unterton wird durch die schlichtweg hübsche Präsentation des Films verstärkt. Der Film wechselt zwischen sanften und warmen Farbpaletten und kühler Moderne; dies unterstützt die gewollte Stimmungen in den einzelnen Szenen gut. Mit technischen Spielereien wie Splitscreens und dem zeitlichen aufgeweichten Production Design zwischen eindeutiger Gegenwart und Vintage Settings sucht der Film den Bezug zu augenscheinlichen Vorbildern Gutierrez' in der Gestaltung seines Werks. Es unterstützt den Eindruck, dass Henry nicht nur emotional und gedanklich in der Vergangenheit hängt: das moderne Heim erinnert trotz seines zeitgenössisch klaren und aufgeräumten Stil architektonisch an geräumige Villen der 60er und 70er. Diese Jahrzehnte halten unaufdringlich wie gleichzeitig spürbar Einzug in die Gestaltung der Einrichtung und das Wesen des Films. Seine Ausleuchtung und einige inszenatorische Kniffe lassen Elizabeth Harvest gialloesk wirken. Die örtliche Beschränkung auf die Luxusvilla mit ihren dunklen Winkeln und geheimnisvollen Kellerräumen erheben den Film zu einem Modern Gothic-Werk.

Dem hübschen Schein gegenüber steht die ernüchternde Erkenntnis, dass der Wille zum Stil mit der zweiten Hälfte aufbricht. Rückblenden auf die Vergangenheit Henrys durchbrechen den sorgfältig aufgebauten Filmstil; hier fällt Elizabeth Harvest zurück auf einen fast herkömmlichen, kammerspielartigen Terror-Thriller. Elizabeth erwehrt sich dem von seinen Erinnerungen und damit verbundenen, vergeblichen Sehnsüchten besessenen Ehemann letztendlich. Vorhersehbar wie schade, entwickelte sich der Film zu einem düster-eleganten Stück über die bitterböse Wirkung tragischer Liebesschicksale. Gutierrez' Film hätte das Zeug zu einem späten Klassiker, wenn nicht gleichzeitig mit dem Aufbrechen des sorgsam aufgebauten Settings zu Tage gefördert wird, dass die Kniffe des venezolanischen Regisseurs keineswegs frisch und neu sind. Viel mehr verfügt er über das Talent, mit hübschen Bildern davon abzulenken, dass er sich bei Thrillern aus der Belle Etage bedient. Das wiederum gar nicht mal so schlecht und durchaus sehenswert.
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