Samstag, 13. Juni 2020

Midsommar

Allzu leicht könnte man Ari Asters aktuellen Film Midsommar als bloßen Mindfuck abstempeln, der wie die Bewohner der Kommune, in die es die Protagonisten verschlägt, diese wie uns Zuschauer mit ihren archaischen Traditionen und Riten auf vielen Ebenen nur verstören möchte. Doch das Kino des schnell hoch gehandelten Regie- und Genre-Wunderkinds ist weit mehr, als mit Symbolismus aufgeladene, interpretationsreiche Bilderfluten. Wie in seinem Langfilmdebüt Hereditary behandelt Aster Verlust als zentrales Thema. Ist es dort noch der Tod eines Familienmitglieds, der Anlass für die folgenden Schrecken ist, behandelt er in seinem zweiten Werk das Ende der bereits elendig lange dahinsiechenden Beziehung der Studenten Dani und Chris. Wieder ist es ein schwerer Schicksalsschlag, den die weibliche Hauptfigur zu verkraften hat; dadurch noch mehr als ohnehin mental angeschlagen, bringt sie ihre kriselnde Partnerschaft zu Chris einen Schritt weiter Richtung Abgrund. Dieser lädt seine Freundin nur aus Höflichkeit dazu ein, ihn und seine Studienfreunde Pelle, Josh und Marc auf eine Reise nach Schweden zu einer großfamilienähnlichen Kommune, in der Pelle einen Teil seines Lebens verbrachte, zu begleiten.

Entgegen Chris' Annahme, dass sie ausschlägt, sagt Dani zu. In Schweden angekommen, treffen sie rechtzeitig zu den Feierlichkeiten zur Mittsommerwende in der Kommune ein. Das auf einige Tage ausgedehnte Fest wird durch das immer bizarrere Verhalten der dortigen Bewohner und seltsam wie grausam anmutende Rituale eine harte Prüfung für die Studenten. Als einige geschockt von den dortigen Bräuchen mit dem Gedanken spielen, vorzeitig abzureißen, ahnen sie noch nicht im geringsten, wie sehr sie in den Planungen der Kommunenmitglieder für das Fest eingeplant sind. Weitgehend löst sich Aster mit seinem Script, das er seiner Aussage nach schrieb, um das Ende einer eigenen Beziehung zu verarbeiten, von gängigen Konventionen des Horrorfilms. Packte er seinen Hereditary noch häufig in Dunkelheit und düstere Bilder, wird Midsommar von hellen, leuchtenden Farben bestimmt. Lässt er seine Figuren zunächst mit der zu dieser Jahreszeit nie untergehen wollenden Sonne hadern, konfrontiert er sein Publikum gleichzeitig mit dem Umstand, dass das Grauen nicht im Dunkel lauert und man sich gedanklich nicht davor in visuelle Schattengebilde gängiger Horrorfilme retten kann. The Sun Always Shines On TV.

Aster festigt sich mit Midsommar als scharfer Beobachter, der sich gewollt gegen die hastigen Erzählstrukturen des Mainstream-Horrors stellt und sich beim Aufbau seines Szenarios und der Ausgestaltung der Charaktere Zeit lässt. Nachdem er die emotionale Spannung des Stoffs bereits Eingangs mit der Darstellung des Dani betreffenden Unglücks eindringlich zu einem ersten Höhepunkt führt, lässt er den Horror lange außen vor. Szenen, in denen er auch durch geschickte Bildkompositionen die Distanz zwischen seinen beiden Protagonisten darstellt, überwiegen und lassen den Zuschauer in die zerklüftete Partnerschaft der beiden eintauchen. Nüchtern, ohne störende Rührseligkeiten schaut Aster auf zwei Menschen, die über immer weiter auseinander reißenden Klüfte krampfig aneinander festhalten und nicht merken oder wahr haben wollen, wie man dem Partner immer mehr entgleitet. Dani steckt in ihrer selbst geschaffenen Abhängigkeit fest, die Chris in ein Pflichtbewusstsein ihr gegenüber drängt, das eine ungesunde Einseitigkeit besitzt. Er steckt in der Rolle der Stütze der Beziehung und Wächter über ihre mentale Gesundheit fest, anstelle sich komplett aufrichtig bzw. fürsorglich um sie zu kümmern. 

Die Magie der Liebe scheint lange versiegt zu sein. Dani und Chris müssen bis zur eigenen Erkenntnis, der völligen Wahrnehmung und Akzeptanz des Endes zunächst ein Martyrium durchgehen. Die fremd wirkenden Bräuche der Kommune, die ihre Freunde und sie selbst schockieren und emotional stark mitnehmen, stellen verschiedene Stufen der innerlichen Reinigung Danis und des konkreten Endes der Beziehung dar. Die in der Beziehung längst entzündete Wunde muss zunächst Schmerzen wie der Schock über die für ihre Gastgeber so normal erscheinenden Bräuche. Bis alles wieder vergeht, muss es nochmal richtig weh tun, brennen und unangenehm sein. So unbehaglich, wie sich auch die Stimmung des Films entwickelt, die Aster den Zuschauer in jeder weiteren Szene in der Kommune spüren lässt. Sein Horror ist eher das gemeinsame Erleben mit den Figuren, der kollektive Schock über die Grausamkeiten der von den Bewohnern der Kommune verübten Rituale. Die heidnischen Bräuche treffen uns christianisierte, aufgeklärten Menschen alleine schon durch ihre Fremdartigkeit. Bis auf zwei grafisch sehr explizite und äußerst wirksame Szenen verzichtet Midsommar auf den im Horror sonst meist exzessiv genutzten roten Lebenssaft. 

Neben dem Verlust eines Menschen, für den man tiefgreifende Gefühle empfand, die sich immer weiter auflösen, lässt uns der Regisseur auch die Absenz von ursprünglichem, urwüchsigem Denken und Fühlen in unser Bewusstsein treten. Aster spielt mit unserer Christianisierung und deren Verdrängung alter, monotheistischer Glaubenskonstrukte. Was barbarisch für den einen scheint, empfindet ein anderer in seinem Lebensbewusst als vollkommen üblich. Was normal ist, liegt im Auge des Betrachters. Fast schon bedauerlich, dass Midsommar bei seiner Vielschichtigkeit mitunter in gängige Horrorschemata verfällt. Dies fängt bei schwachen Nebenfiguren wie Marc an, der der übliche nervige, notgeile wie dezent tumbe Auffällige ist, der zumindest mir schnell auf die Nerven ging, und hört bei zwar nur angedeuteten und nie vollständig ausformulierten Szenen auf. Sie stehen im Kontrast zum komplexen Rest der Geschichte; zu simpel und vorhersehbar formt sich ein Verdacht im Kopf des Zuschauers, der sich später bewahrheitet. Es raubt ihm seine unvergleichliche Charakteristik und oppositionelle Haltung gegenüber normaler Genreware. Am ehesten kommt einem bei Midsommar als grober Vergleich The Wicker Man in den Sinn.

Scheinbar der Einzigartigkeit seines Stoffs voll und ganz bewusst, bewahrt Aster die Einzigartigkeit des Films. Wie die weiblichen Bewohner beim Tanz auf dem Höhepunkt des Fests, strauchelt er in wenigen Momenten um in seiner Gesamtheit im Glanz seiner gleißenden Schönheit zu stehen. Eigentlich ködert Aster das Publikum mit der altbekannten und doch die Neugier anheizenden Faszination des Fremdartigen, um dies wie die Figuren des Films mit der geschaffenen, parallel zu unserer konservativ erscheinenden Gesellschaft existierenden Welt zu ängstigen. Die stetig anhaltende, unangenehme Atmosphäre und Asters feines Gespür für präzise wie nüchtern erzählte Dramen, die eins werden mit dem naturalistischen Horror des Films machen Midsommar zu einem feinen Genre-Erlebnis, dem man die plumpen Momente verzeiht. Die weitgehend durchweg positiven Stimmen nach seinem Kinostart kann ich voll und ganz nachvollziehen, selbst wenn ich mich nicht komplett vom Begeisterungssturm mitreißen lasse. Stehende Ovationen und lang anhaltenden Applaus erhält er aber auch von mir. Ist er doch allein schon mit seiner Laufzeit von knapp zweieinhalb (Kino-Fassung) bzw. drei (Director's Cut) Stunden Laufzeit und dem sich bewussten Zeit nehmen für sein Sujet, seine Figuren und seinen Absichten dem Zuschauer gegenüber ein schöner Gegenentwurf zum in Laufzeitschablonen gepressten Genre-Standard. 
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