Die Welt wurde 1968 von der Hippie-Bewegung überrollt, einhergehend mit weitreichenden Studentenprotesten, um dem konservativen, angestaubten Establishment mit seinen alten, überholten Werten eine weltoffene Sicht der Dinge entgegenzustellen. Make love, not war. Frieden auf der ganzen Welt war die Prämisse. Kriegerische Auseinandersetzungen wie in Vietnam wurden aufs schärfste Verurteilt. Piep, piep, piep - wir haben uns alle lieb! Paradiesische Zustände sollten in den cannabisverquarzten Köpfen der träumerischen Protestler, in bewusstseinserweiternden Zuständen erdacht, auf der Welt herrschen. Eine schöne Vorstellung; erstrebenswert. Die letzten Jahrzehnte lehren uns, dass davon einiges, aber immer noch zu wenig realisiert wurde. Kulturell schlug das miefige Establishment seit Beginn der 70er mit reaktionärem Kino zurück: Selbstjustiz und Rache zogen sich in großen wie kleinen Produktionen durch das Jahrzehnt. Sam Peckinpah präsentierte 1971 Wer Gewalt sät, die durch steigende Kriminalitätsraten überforderte Polizei erhielt mit Clint Eastwood in Dirty Harry einen das Gesetz zu seinen Gunsten auslegenden "Peacemaker". 1972 erschufen Wes Craven und Sean S. Cunningham mit Last House On The Left quasi das Rape and Revenge-Subgenre, dessen erster, dauerhaft in die Magengrube feuernde und unbequeme Höhepunkt einige Jahre später Meir Zarchis I Spit On Your Grave wurde.
Mit dem 1974 erschienenen Ein Mann sieht rot, jüngst von Eli Roth mit Bruce Willis in der Hauptrolle neu verfilmt, verwurzelte sich der Rache-Thriller noch etwas tiefer im Mainstream. Michael Winner, der zuvor schon häufiger mit Charles Bronson zusammenarbeitete, prägte außerdem mit diesem Film dessen spätere Karriere in den 80ern als alternden, unnachgiebigem Vigilanten. Bis dorthin, ausgehend vom 1982 entstandenen zweiten Teil zu Death Wish, so der Originaltitel, ist es ein weiter Weg. 1974 ist Bronsons Paul Kersey ein liberal eingestellter Mann, der auch durch persönliche Erfahrungen die Ansichten seines Arbeitskollegen, der Kersey nach seinem Urlaub u. a. mit Kriminalstatistiken konfrontiert, nicht teilt. Das die Stadt bei weitem nicht der paradiesisch anmutende Ort, in dem der Bauingenieur mit seiner Frau die freie Zeit genoss, ist, zeigt nicht nur der rot schimmernde Himmel, der in bedrohlichem Rot bei ihrer Rückkehr nach New York erleuchtet. Nach einem Einkauf werden Kerseys Frau Joanna und seine Tochter Carol in ihrer Wohnung von drei Kleinkriminellen überfallen; Joanna stirbt an den Folgen des gewaltsamen Übergriffs, Carol erleidet durch den Vorfall und ihre Vergewaltigung ein schwerwiegendes Trauma. Kerseys Verlangen, selbst Rache zu üben, wächst langsam. Begebenheiten in der Notaufnahme, eine unbefriedigende Unterredung auf der Polizeiwache und nicht zuletzt ein beruflicher Abstecher nach Texas, bei dem ihm ein Kunde seiner Firma, ein Vollbluttexaner, seine Sicht auf die Dinge und die Welt näher bringt, lassen das bisherige Weltbild Kerseys wanken.
Final stürzt es ein, als er zurück in New York auf dem Heimweg überfallen wird und diesen mit Gegenwehr glücklicherweise vereiteln kann. Kersey bewaffnet sich daraufhin mit dem Abschiedsgeschenk seines Kunden, einem Revolver, um des Nachts den kriminellen Schmutz von der Straße zu räumen. Schnell werden die Medien und auch die Polizei auf den selbsternannten Rächer aufmerksam. In seinem Review zu Ein Mann sieht rot bemerkt Oliver Nöding, dass nach so vielen Jahren sich bisher niemand komplett positiv zu diesem Film äußern will oder kann. Verherrlichung von Selbstjustiz, Verbreitung von Nulltoleranzdenken im Bezug auf Kriminalitätsbekämpfung wurde oder wird Winners Film vorgeworfen. Ist in den heutigen Zeiten der (manchmal übertriebenen) Political Correctness es noch schwieriger, ein komplettes, wertendes Urteil über Ein Mann sieht rot abzugeben? Darf man sowas heute überhaupt noch gut finden? Unter Vorbehalt: ja. Man kommt nicht drumherum zuzugeben, dass Winners Film gut gemacht und atmosphärisch dicht ist. Formell betrachtet krankt er erzählerisch an der episodenhaften zweiten Hälfte des Films, die Kersey in Aktion zeigen. Da verflacht die Geschichte und es wird ein konventionell wirkender Actionkrimi, der zwei Männer auf der Jagd im Großstadtdschungel zeigt. Kersey, bei allem Zwiespalt gegenüber seinem mörderischen Treiben, wenn er dieses beginnt und den ermittelnden Beamten Ochoa. Winner folgt hier stur dem gleichen Muster, zieht die Schlinge um Paul Kersey Stück für Stück weiter zu, folgt seiner Vorstellung, in der Ein Mann sieht rot "nur" ein Actionthriller ist und beschäftigt sich nicht weiter mit seiner Hauptfigur.
Was den Film zweifelhaft macht, ist seine distanzierte Betrachtungsweise in seiner zweiten Hälfte. Winner erzählt einfach, zeigt das Geschehen; er ist gleichzeitig immer nahe bei Kersey und lässt uns an diesen, an sein Denken, nicht richtig heran. Weiter betreibt er dort einen Abgesang auf den Staat und dessen Gesetzeshüter, die macht- und ahnungslos dem mörderischen Treiben eines einzelnen Mannes zuschaut, wie er mit simplen Regelwerk Legislative, Judikative und Exekutive gleichzeitig darstellt. Der Film bezieht keine Stellung, gleitet dem Zuschauer davon, dem er zuvor Kersey als einen aufgeschlossenen Mann zeigte, ihn nahe an dessen Schicksal teilnehmen ließ. Für mich, der durchaus ein Faible für Rachegeschichten im Film hat, hinterließ er durch das Verhalten der Polizei gegen Ende einen sehr seltsamen Beigeschmack. Ratlos und von der Öffentlichkeit in eine Ecke gedrängt, entscheidet sich die Gesetzgebung, die letzte moralische Instanz der Geschichte um den Zuschauer mit einem guten Gefühl zu entlassen, sehr überraschend für einem Weg, der das Publikum alleine mit seinen Emotionen zwischen Mitgefühl für Kerseys Person und Verurteilung seiner Taten schwankt. Das macht Ein Mann sieht rot, der durch Winners Gespür für effektives Actionkino durchaus mit dem Prädikat "gut gemacht" versehen werden kann, zu einem auch heute noch leicht schwierigen Kandidaten. Es sollte jeder für sich entscheiden, ob man hier nun einen, zwei oder keinen Daumen dafür recken kann. Unter Vorbehalt mache auch ich das. Die persönliche Vorliebe für Rachestories kann auch nicht komplett unterdrückt werden. Gespannt bin ich nun allerdings auf die Fortsetzungen, die - in den Händen von Cannon Films - mit ihrem erzkonservativen, reaktionären Auftreten Winners Film sehr harmlos aussehen lassen sollen. Dieser deutet ungewollt mit der letzten Einstellung Kerseys Charakter in diesen an und macht - ganz neudeutsch gesprochen - Ein Mann sieht rot zu einem Origin für diese, während der Erstling einen leicht ratlos zwischen gut finden und in Frage stellen schwanken lässt.
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