Ulli Lommel ist nicht mehr. Am 2. Dezember starb der deutsche Regisseur, Produzent, Autor und Schauspieler an einem Herzinfarkt. Einen Namen machte er sich als Darsteller im Ensemble von Rainer Werner Fassbinder, mit dem er zwischen 1969 und 1977 21 Filme drehen sollte. Zuvor sah man den Schauspieler u. a. 1964 in der Russ Meyer-Verfilmung von Fanny Hill, bevor er drei Jahre später nach München übersiedelte, an der Kleinen Komödie Theater spielte und in Berührung mit dem Neuen Deutschen Film kam. Als Lommel Ende der 70er in die USA übersiedelte, inszenierte er mit Blank Generation und Cocaine Cowboys zwei Filme aus Andy Warhols Factory, in denen der Künstler auch selbst mitwirkte. Ruhm erlangte er durch den B-Horrorfilm The Boogey Man, der insgesamt drei Fortsetzungen nach sich zog. Mit dem erfolgreichen Schocker, der heute noch auf dem deutschen Nischenmarkt in schöner Regelmäßigkeit neu aufgelegt wird, blieb Lommel in der B-Film-Welt stecken. Er drehte in den 80ern u. a. den atmosphärisch recht guten The Devonsville Terror oder Olivia - Im Blutrausch des Wahnsinns. Er blieb den kleinen Filmproduktionen alle folgenden Jahren und Jahrzehnten treu und erlangte neuerlich Aufmerksamkeit, als er 2004 mit dem Casting-Show-Teilnehmer Daniel Küblböck Daniel, der Zauberer drehte, schrieb und auch eine Rolle darin übernahm.
Der während seiner Fassbinder-Jahre entstandene Die Zärtlichkeit der Wölfe greift zum ersten Mal ein Thema auf, welches in Lommels Arbeiten als Regisseur immer wieder auftauchen sollte. Ab Mitte der 2000er schuf er viele kleine B-Schocker zwischen No- und Low Budget, welche sich mit Serienmördern auseinandersetzen. Seine zweite Regiearbeit befasst sich mit dem im Hannover der 20er Jahre wütenden Fritz Haarmann. Aus produktionstechnischen Gründen verlegte man die Handlung des Films in das Ruhrgebiet des Nachkriegsdeutschland der 40er Jahre. Die am Film beteiligte Truppe von Fassbinder war zu dieser Zeit dort ansässig und verwendete für die Drehs Locations in Bochum, wo man am dortigen Theater engagiert war und Gelsenkirchen. Die restlichen Fakten blieben unangetastet und so widmet sich Lommel dem homosexuellen Serienmörder, welcher junge Knaben und Männer, meistens Ausreißer die er am Bahnhof aufsammelt, in seiner Dachwohnung verführt, umbringt und zerstückelt. Das Fleisch verspeist er selbst oder verhökert es an eine nahe gelegene Wirtschaft. Haarmann profitiert dabei von einem Spitzeljob für die Polizei und gibt sich sogar öfter als Polizeikommissar aus, wenn er nicht gerade mit seinem Handlanger Hans Diebstähle oder Hehlereien abwickelt. Für Fritz ist Hans nicht nur ein Komplize, sondern auch seine große Liebe, die unerwidert bleibt und in weitere Ferne rückt, als Hans irgendwann nur noch mit dem schmierigen Zuhälter Wittowski zusammenarbeitet.
Diese Liebe und unerfüllte Sehnsucht, die aus Haarmanns Gesicht leicht aufblitzen, wenn er mit Hans alleine ist, sind auch verstecktes Thema von Buchautor und Hauptdarsteller Kurt Raab. Fassbinder lag schon länger das von seinem Ausstatter und Darsteller geschriebene Buch vor, als er Lommel und diesen Anfang der 70er darauf ansprach und das Projekt gerne verwirklichen wollte, weil er noch Gelder der Filmförderung übrig hatte. Lommel ist zwar als Regisseur genannt, Die Zärtlichkeit der Wölfe ist merklich ein Film des 1988 verstorbenen Schauspielers. Raab und Lommel schwebte etwas leichtes vor, ein unterhaltsamer Film; ein Kriminalstück im Stile der Noir-Filme, das im Endeffekt zwischen Genre und Arthouse pendelt. Es mag damit zusammenhängen, dass Raab sich für die Dialoge der leicht gestelzten, theatralischen Sprache der Fassbinder-Werke bediente, dass sich der Film dezent entrückt anfühlt. Lommel und viel mehr noch Raab gestalten einen kleinen Kosmos, eine Welt die sich von der restlichen Gesellschaft der Nachkriegszeit abhebt. Raabs Taten, die fast episodisch in stoischer Ruhe erzählt werden und das interagieren mit seiner Umwelt, zeigt Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg von "ganz unten". Die einfachen Leute, die den Film bevölkern halten bis zu einem Punkt zusammen, auch wenn persönliche Differenzen durchblitzen. Man sitzt im gleichen Boot, teilt das selbe Schicksal und eine Hand wäscht die andere.
Manchmal rückt damit die dunkle Seite Haarmanns aus dem Fokus der Erzählung, bis er plötzlich regelrecht getriggert wird. Dann erblickt er einen hübschen Jungen, der von seinem Blick eingefangen wird und vom Rest seiner Mitmenschen fast unbemerkt, nur von der Kamera und dem Zuschauer als stummen Beobachter eingefangen, laufen Bilder von Mord, Lust und Blut im Kopf Haarmanns ab. Raabs Spiel ist dezent, er trägt mit seinen Emotionen nicht dick auf und schafft es, dass man mit dem Serienmörder trotz seiner grausamen Taten mitfühlt. Sein Fritz Haarmann ist gefangen in seiner Selbst, eine Geisel seiner Triebe und dem Unvermögen, diese zu kompensieren. Der unscheinbare Mensch kann nur durch grobe Gewalt, die bis auf zwei explizitere Szenen komplett im Off stattfinden, diese lauernden Gelüste ausleben. So mag die Dachwohnung in ihrer Erscheinung, die dreckig und immer dunkel erscheint, ein optisches Abbild des inneren Zustands Haarmanns sein. Helle, Hoffnung schenkende Flecken blitzen selten bis gar nicht auf. Er ist dieser Dunkelheit ergeben und schreitet am Ende des Films, nachdem er auf frischer Tat ertappt wurde, in die Dunkelheit hinein als hätte er einen inneren Kampf mit dem Rest Menschlichkeit, gegen seine Dämonen, verloren.
Nicht nur durch sein Drehbuch, seiner Hauptrolle und seiner Ausstattung ist Die Zärtlichkeit der Wölfe mehr ein Film von Kurt Raab, als ein Film von Ulli Lommel. Es ist ein sehr persönliches Werk des Multifunktionalisten, der hiermit auch einen inneren Kampf mit sich selbst von der Seele schreiben und verarbeiten möchte. Raab selbst gab einmal an, dass er an Gott glaube und genoss eine strenge katholische Erziehung und war homosexuell. Der Schauspieler mag hier nicht nur von Haarmanns Gräueltaten erzählen, sondern auch von einem währenden, inneren Konflikt. Die Fleischeslust, das damals in sexueller Hinsicht gesetzlich verbotene, die in ihm wohnt, ihn wachhält und gleichzeitig die religiöse Seite, die dagegen ankämpft. Das in Haarmanns Wohnung hängende Kruzifix thront still und mahnend im Vordergrund, nimmt viel Raum des Bildes ein, wenn Szenen in der Wohnung spielen. Raab habe seiner Aussage nach exzessiv gelebt und dieses Leben auch genossen; wie lange brauchte er aber, um dies ohne einen Anflug von Zweifel zu sagen? Die Zärtlichkeit der Wölfe könnte ein filmischer Weg zur Erlangung der Sühne sein, ein zu sich selbst finden, um innere Konflikte zu bewältigen und abzuschütteln. Sicher legte der Mime nicht die ganze eigene Persönlichkeit in die Hauptfigur, eben auch durch ihre nicht alleinige fiktive sondern auch reellen Existenz als wahrhaftiger Mörder.
Vielleicht erscheint uns Raab in seiner Rolle so eindringlich und einnehmend. Den inneren Kampf verarbeitend, mag auch bis zu einem gewissen Punkt Verständnis für das Innenleben Haarmanns den Schauspieler dazu führen, eine sehr gute Performance hinzulegen. Das lenkt von wenigen spröden Momenten der Handlung ab, die durch ihre springende Erzählweise manchmal den roten Faden verliert. Lommel lässt sich da fast von seinem Hauptdarsteller mitreißen und mitziehen, wird vom Spiel eingelullt wie die Opfer von Haarmann, führt dann letztendlich seinen Film mit leichter Hand zum Ausgangspunkt zurück. Die Zärtlichkeit der Wölfe ist weniger der Unterhaltungsfilm geworden, den man beabsichtigte zu drehen. Er ist sozialkritisch und zeigt, dass das Wirtschaftswunder nicht jeden erreichte, dass es schon damals eine zweite Welt, eine andere Gesellschaft gab. Es ist ein persönlich gefärbter Film, ein True Crime-Drama bevor der Begriff True Crime geboren war und einen Hype um die Faszination von Serienmörder auslöste. Manchmal mag er zu nüchtern sein um im nächsten Augenblick dieses imaginäre Tor zum Seelenleben des Protagonisten und zu einem Teil zum Hauptdarsteller aufzustoßen. Es ist auch eine kleine Hommage an das deutsche Kino der 20er und 30er, zitiert eine Szene direkt Fritz Langs großartigen M - Eine Stadt sucht einen Mörder und auch der Beginn, wenn Haarmanns Schatten beim Gang durch eine schwach beleuchtete Straße entlangschreitet, erinnert etwas an das Meisterwerk.
Es ist Schade, dass Lommel, der mit seinem Werdegang vom Autorenfilm zum Underground über B-Horror und Low-Budget ein eigenwilliger Filmemacher wurde, der eine ganz eigene Welt zu bewohnen schien, nicht mehr ist. Da schließt sich der Kreis, wenn man auf Die Zärtlichkeit der Wölfe zurückkommt. Der angesprochene, ganz eigene Kosmos ist etwas, dass man auch bei einigen Fassbinder-Werken findet. Wie ein Teil einer gängigen Realität, einer Gegenwart, sich los löst und zu einer eigenen Welt wird. Schade, dass Lommel und Raab nicht mehr sind. Mir kam manchmal Heinz Strunks Buch Der goldene Handschuh über den Hamburger Serienmörder Fritz Honka in den Sinn und wie gut es gewesen wäre, wenn die beiden, wenn nicht Raabs AIDS-Erkrankung und sein Tod daran und Lommels Abtreten wäre, das Buch verfilmt hätten. Es wäre vielleicht ebenfalls so ein eindringlicher, leicht eigenartiger und vollkommen faszinierender Film wie Die Zärtlichkeit der Wölfe geworden. Fatih Akin kann ich mir noch schwer als Regisseur einer angedachten Verfilmung von Strunks Roman vorstellen. Das ist aber ein anderes Thema.
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