Credits

Dienstag, 14. Mai 2024

November

In was für einer traurig grauen Welt leben all' jene Menschen, die fernab jeglicher Fantasie existieren und Märchen als Kinderkram abtun? Gefangen im urbanen, technisierten und automatisierten Alltag, rationell denkend, scheint dieser Art Leben wie Scheuklappen zu funktionieren, die den Blick von allem, was von der eng gesteckten Lebensnorm abweicht, abschirmt. Die Zerstreuung und Unterhaltung unterliegt gleichbleibender Muster, ist ebenso genormt wie abhängig von Algorithmen, die gemäß ihrer Syntax aus dem Verhalten der Nutzer lernen und ewig gleiches vorsetzen. Wer es schafft, über die Ränder und vorgerechnete, lieblos zusammengesetzt Unterhaltung hinweg zu schauen, der entdeckt jene magische Welten, wie sie Rainer Sarnet mit November erschuf. Wer gänzlich unvorbereitet in diesen faszinierenden, aus Versatzstücken estnischer Folklore erschaffenen Kosmos steigt, könnte sich hin und wieder darin verloren vorkommen. Für die Figuren dieser Erzählung mögen das vom Publikum erlebte Übernatürliche, die Absurditäten und Fantastereien völlig normal erscheinen. Kratt genannte, aus Werkzeugen zusammengebaute, lebendige Wesen die ständig eine Arbeit brauchen, Tote die einmal im Jahr zu ihren Familien zurückkehren, die Pest in Gestalt einer Ziege, welche sich mit einer über den Kopf gestülpten Unterhose austricksen lässt. Man stolpert einfach so in dieses Universum hinein und wandelt mit Fragen im Kopf durch dieses Erwachsenenmärchen, das nichts erklärt und damit vieles richtig macht aber auch überfordern kann.

Einen roten Faden in der Geschichte gibt es schon, der von Liina und ihrer unerfüllten Liebe zu Hans, der hingegen Luise, die Tochter eines deutschen Barons, begehrt, welche er nach einer Messe kennenlernt. Damit der Angebetete sein Herz an sie verlieren soll, sucht Liina den Rat der Dorfhexe, die ihr die Tötung Luises empfiehlt. Hans wiederum versucht mit Hilfe des Teufels selbst, der somnambulen Luise nahe zu kommen. Doch ist sie für Sarnet mehr ein konventioneller Zugang für das Publikum seines sich zwischen Drama, Märchen und Folk Horror bewegenden Werks. Irgendeine Geschichte, die zur Orientierung dient, benötigen internationale Kinobesucher oder im Heinkino befindliche Cinephile dann schon. Den wenigsten dürfte die estnische Folklore vertraut sein, dass man sich problemlos durch die auf Andrus Kivirähks Roman "Der Scheunenvogel" basierende Geschichte bewegen kann. Einziger Knackpunkt ist, dass darin so viel los ist und passiert, dass die grundlegende Erzählung aus der Augen verloren und zum Beiwerk wird. Dafür bezaubert November mit seiner Widersprüchlichkeit zwischen geerdetem, naturalistischem Look und traumhaft surrealen Momenten. Man bedient sich bei Motiven der schwarzen Romantik, altertümlichen Mythen, packt derben Humor dazu und bettet alles in eine großartig umgesetzte Schwarzweiß-Fotografie. Das nicht jeder etwas mit so einem wilden wie poetischen Film-Ritt kann, liegt auf der Hand. Um Konventionen ist Sarnet nicht bemüht. Lieber will er uns und alle an dieser märchenhaften Filmwelt interessierten Menschen dazu einladen, sich für gut zwei Stunden von der strukturierten, berechenbaren Realität zu verabschieden. Wer ein Faible für solcherlei einzigartige Filmerlebnisse hat, soll jegliche Skepsis oder Scheu ablegen. Denn: zu träumen wecke sich, wer kann! 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen