Montag, 30. April 2018

Lady Bird

Selten wurde ich in der letzen Zeit von einem Hype so angesteckt, wie von dem um Greta Gerwigs erste Soloregiearbeit. Der Film tauchte zur Hauptphase der Oscars in allen relevantesten Kategorien auf: er war für die Kategorien beste Nebendarstellerin, Hauptdarstellerin, Originaldrehbuch, Regie und bester Film nominiert. Ich gönnte Guillermo del Toro den Oscar für The Shape of Water; nach der Sichtung von Lady Bird empfinde ich es als ziemlich schade, dass es bei der Verleihung des alten Goldjungen nur bei den Nominierungen blieb. Dafür heimste er nicht nur zahlreiche andere Preise sondern immerhin zwei Golden Globes für die beste Hauptdarstellerin und den besten Film ein. Erste Stimmen zum Film bei letterboxd machten mich ziemlich neugierig auf das vielgepriesenen Debut Gerwigs und obwohl meine Skepsis gegenüber einem Film gleichzeitig mit den guten bis sehr guten Besprechungen wächst, verflog diese während meiner Sichtung äußerst schnell.

Eigentlich ist Lady Bird auf den ersten Blick nicht originell; das Rad erfindet er nicht neu und im Grunde genommen präsentiert uns Gerwig eine Coming of Age-Geschichte, wie es sie schon oft gab: ihre Protagonistin Christine McPherson, die von allen Lady Bird genannt werden möchte, ist ein 17-jähriges Mädchen mit den für das Alter typische Sorgen. Sie ist auf der Suche nach einer eigenen Identität, bandelt langsam mit Jungs an und hat die ersten Freunde, steht an ihrer katholischen Schule an der Schwelle des Abschluss und möchte raus aus ihrer für sie miefigen Heimatstadt Sacramento. Am liebsten an die Ostküste, genauer gesagt New York, um dort dann ein gutes College zu besuchen. Mit ihrer Mutter liegt sie trotz der guten Beziehung zu dieser häufiger im Clinch. Allein wegen den geringen Finanzen der Familie versucht sie ihre Tochter, manchmal ziemlich schroff, auf den Boden der Tatsachen zu holen und sie zu einer realistisch denkenden Person heranzuziehen. Lady Bird hat ihren eigenen Kopf und verfolgt stur weiter ihren Traum, Sacramento hinter sich zu lassen.

Gerwig erzählt ihre Geschichte angenehm unaufgeregt in Episoden, als würde sich die Regisseuren zu den Zuschauern setzen um bei einem entspannten, geselligen Abend einige Anekdoten zum Besten zu geben. Sie fängt einfach an zu erzählen, schubst uns in ihre Welt und verknüpft die einzelnen Geschichtsstränge über die Zeit zu einem größeren Ausschnitt aus einem Teenieleben. So plötzlich wie die Geschichte beginnt, endet sie auch. Lady Bird ist die größere, eine wichtige, Episode aus dem Leben einer Jugendlichen, die eben irgendwann auch mal wieder fertig ist. Das Kino fungiert für uns als Gastgeber des geselligen Abends und irgendwann wird man von diesem, so schön es auch ist, rausgeworfen, in die Nacht entlassen und lässt uns mit den Eindrücken von Gerwigs Geschichte zurück. Das macht Lady Bird so stark: der Film lässt einen klassischen Spannungsbogen vermissen, lässt uns durch die Erzählung fließen und zeigt: Teenieleben, pubertäres Aufbegehren und die Suche nach dem eigenen ich ist nicht immer laut und vereinnahmend. Es kann kleinere Dramen inmitten eines ansonsten unaufgeregten Lebens beherbergen.

Das ist eben das schöne an Lady Bird: er fühlt sich aus dem Leben gegriffen an, real, ohne dass überzeichnete Dramaturgie dem Film seine Glaubwürdigkeit raubt. Greta Gerwigs autobiographisch gefärbte Erzählung ist aus dem Leben herausgeschnitten und visuell für den interessierten Zuschauer aufbereitet. Man muss sich dabei nicht mal groß auf den Film einlassen. Gerwig ist eine charmante Geschichtenerzählerin, lässt viel über Dialog geschehen und verdammt, kann diese Frau gute Dialoge schreiben! Mit Leichtigkeit verbindet sie die kleinen und größeren Dramen aus Christines Leben mit hübschen Absurditäten. Das sie dabei nicht komplett Klischees umschifft, verzeiht man ihr. Ihre Lady Bird, großartig von der wunderbaren Saoirse Ronan gespielt, ist ein charmanter Charakter den man sofort ins Herz schließt. Man kennt es ja von diesen geselligen Abenden: da ist meist immer eine Person dabei, der man sehr gerne an den Lippen klebt, wenn sie ansetzt, ihre Geschichten zum Besten zu geben.

Dank Gerwigs tollem Gespür diese Everyday-Dramen ohne großem Knalleffekt fast beiläufig erscheinen zu lassen, die in ihrem kurzen Aufblitzen dennoch berühren und einer tollen Darstellerauswahl - die Chemie zwischen Ronan und ihrer Filmmutter Laurie Metcalf ist fantastisch - ist Lady Bird auch für mich zu einem Kandidaten für den besten Film des Jahres geworden. Seine Authentizität rührt aus seiner unbekümmerten Art, die bis zur Cinematography mit ihren ausgeblichenen Farben reicht und niemals gekünstelt wirkt. Das fängt schon mit dem an sich schlichten Kinoplakat, einer Profilaufnahme der Protagonistin, an. Es ist so simpel, so schlicht und nimmt den Betrachter nach kurzer Zeit ein. Das liegt vielleicht aber auch an diesem tollen Menschen, der Lady Bird trotz ihrer Sturheit ist. Allen Unsicherheiten und ihrem verbiegen in Richtung der coolen Leute in einer Phase der Geschichte, ist sie schon ein fast komplett gereifter Mensch, dem es zu Beginn des Films an letzter Erkenntnis fehlt. Selten hat es dabei so Spaß gemacht, einem jungen Menschen filmisch beim erwachsen werden zuzuschauen. Ich mag zwar z. B.  zum Teilauch die plakativ-provokanten Porträts eines Larry Clark, viel mehr gerate ich aber ins Schwärmen, wenn das gezeigte Coming of Age so spürbar echt ist, das man die Geschichten, die in diesem Falle die Autorin und Regisseurin in einem, weil man das so ähnlich auch irgendwie selbst erlebt hat.




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Sonntag, 29. April 2018

The Wailing - Die Besessenen

Schon die Bibel lehrte uns, das der Glaube Berge versetzen kann. Innere Überzeugtheit, Konzentration auf bestimmte Dinge: man muss nur daran glauben, um eine zuerst nicht meisterbare Situation zu bewältigen. Schon diese Redensarten beweisen, wie stark unsere geistige Fähigkeiten sein können, um durch reine Kraft der Gedanken sich zu motivieren oder zu kräftigen. Ebenso haben wir die Fähigkeit diese Kraft auszunutzen und zu manipulieren. Na Hong-jins The Wailing zeigt extremere Beispiele dieser Glaubenskraft inmitten seiner fahrigen Mischung aus Drama, Horror und Thriller. Es beginnt alles mit dem grausamen Mord in einem kleinen Dorf an einer Familie, deren Mörder scheinbar den Verstand verloren hat und mit einem unschönen, großflächigen Ausschlag übersät ist. Der im Fall ermittelnde Polizist Jong-Goo glaubt zuerst daran, dass eine Pilzvergiftung schuld an der Wesensveränderung des Täters ist. Alsbald verlieren weitere Bewohner der Ortschaft ihre Beherrschung und fallen durch blutiges Treiben, Raserei und dem gleichen Ausschlag auf ihrem Körper auf.

Jong-Goo kommt zu Gehör, dass in den Wäldern die das Dorf umschließen ein japanischer Einsiedler lebt, dem die gesunden Bewohner bald die Schuld an den Begebenheiten geben. Der einfältige Polizist glaubt diesen Gerüchten und versteift sich bei seinen Ermittlungen auf den Japaner. Dessen Schuld wird von einem von Jong-Goo zu Rate gezogenen Schamanen untermauert, als dessen Tochter im Verhalten die gleichen Anzeichen zeigt wie die zuvor durchgedrehten Bewohner. Jong-Goo macht weiterhin jagt auf den Einsiedler, während der Schamane mit einem aufwändigen Ritual versucht, das Mädchen von ihrer fortschreitenden Besessenheit zu befreien. Bald kommen Zweifel auf, dass der Japaner wirklich der Schuldige an den Vorkommnissen Im Ort ist. Leider verpasst es Na Hong-jin dabei, die gegebenen Möglichkeiten seiner Geschichte klar herauszuarbeiten. The Wailing könnte ein Statement,  eine Studie sein; er verliert sich in sich selbst. Wie sein Protagonist sind der Film und sein Regisseur ziellos, was auch die immense Laufzeit von gut zweieinhalb Stunden erklärt. Na Hong-jin reduziert nicht. Er baut The Wailing episch auf, lässt ihn als Thriller beginnen, der durch seinen Look leicht an Bong Joon Hos Memories of Murder erinnert.

Bei der Einführung seines Protagonisten lässt er sich Zeit; die zugegeben sehr gute Darstellung Do Won-Kwaks des einfachen, etwas furchtsamen und faulen Polizisten erhält in der ersten Hälfte viel Raum. Diese ausführliche Beleuchtung des Charakters lässt ihn als unsympathischen Zeitgenossen erscheinen. Der Eindruck wird verstärkt, als er mit unschönen Mitteln dem Japaner zu Leibe rückt. Leider wenig hilfreich, hier eine Verbindung zwischen Hauptfigur und Zuschauer aufzubauen. Verstärkt aufkommende Mysteryelemente bereiten in der zweiten Hälfte die Wandlung in einen Horrorfilm vor um, nicht untypisch für koreanische Genrefilme, dies mit dramatischen Tönen zu verbinden. Eines der Probleme des Films hierbei ist, dass er sich auch dafür ausufernd Zeit nimmt. The Wailing ist eine gute halbe Stunde zu lang, mag er an einigen Stellen doch schwerlich auf den Punkt kommen. Na Hong-jin schlägt innerhalb seiner Geschichte nicht unbedingt nötige Haken, anstatt sich auf einen bestimmten Aspekt zu konzentrieren. Möglichkeiten hätte er, könnte man seinen Film doch eigentlich wunderbar als Studie über die Stärke(n) des Glaubens lesen. Verwurzelte Vorurteile, dass von Fremden nichts gutes ausgehen kann, somit gut und gerne als eingepflanzt zu bezeichnende Xenophobie, die schwer aus den Köpfen einiger Menschen zu vertreiben ist, zeigt The Wailing zwar im Ansatz, gibt dies mehr oder minder für den übernatürlichen Plot auf.

Jong-Goo ist allein durch seine Zeichnung, die weit entfernt vom typischen Heroenbild ist, ein gutes Beispiel dafür, wie einfach Glauben mittels Gerüchten etc. zu beinflussen ist. Trotz seines Berufs, durch den er eine gesunde Portion Skepsis und eigene Meinungsbildung mitbringen sollte. Auf der anderen Seite spielt The Wailing mit der Frage, inwieweit Aberglaube als kollektives Erlebnis die Wahrnehmung beeinflussen kann. Lange lässt das Drehbuch die Frage im Raum schweben, ob die paranormalen Elemente überhaupt reell oder doch nur reines Konstrukt der menschlichen Wahrnehmung sind. Bevor das näher beleuchtet oder ausgearbeitet werden kann, gibt sich Na Hong-jin der Bequemlichkeit hin und bewegt seine Geschichte in Richtung Phantastik. Die eigentliche Unsitte deutscher Verleiher, gefühlt jedem dritten Film einen Untertitel zu verpassen, passt hier ausnahmsweise und greift eine Thematik von The Wailing auf, die durchaus eine hübsche Doppeldeutigkeit besitzt. Besessenheit ist der Kern der Geschichte, die man durchaus auch darauf münzen kann, dass die bisher verschonte Dorfgemeinschaft von ihrem Aberglauben besessen ist. Dies ist auch Jong-Goo mit seinen Verdächtigungen gegenüber des Japaners. Und auch dieser zuerst so rätselhaft erscheinende Charakter ist dies in seiner Handlung.

Glauben kann in seiner extremsten Form eine Besessenheit sein. The Wailing lässt seine Möglichkeiten links liegen, subversiven Horror zu gestalten und lässt den westlichen Zuschauer manchmal auch recht ratlos zurück, wenn er sich auf traditionelle asiatische Mythen und Rituale konzentriert und diesen viel Raum bietet. Das lässt einen atmosphärisch starken Film zurück, dessen Geschichte mehr Straffheit, mehr Struktur gut getan hätte. Irgendwann findet man sich mit dem eingeschlagenen Weg ab, ohne nicht doch leicht wehmütig den liegengelassenen Möglichkeiten hinterher zu schauen. Dort hat man sich von The Wailing geistig schon längst gelöst und festgestellt, das der Film weit weniger in die Tiefe geht, wie gewünscht oder möglich wäre. Man verliert förmlich den Glauben an das Werk. Trotz seiner zwei bis drei starken Szenen, besitzt The Wailing nicht die Kraft, sich in den Kopf des Zuschauers festzubeißen. Viel zu oft fällt einfach auf, dass die Geschichte aufgebläht ist. Mit mehr Fokus und einem besseren Blick auf die Perspektiven in Richtung Glauben, welche die Story durchaus erlaubt, wäre hier ein durchaus famoser Film entstanden. Im Endeffekt ist The Wailing zwar nicht richtig schlecht, aber leider auch nicht richtig gut.
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Sonntag, 22. April 2018

Die Jagd

Wenn Thomas Vinterberg etwas kann, dann ist es Manipulation. Wie in seinem Beitrag zum seinerseits von ihm mit unterzeichneten Dogma 95-Manifest Das Fest versteht es der dänische Regisseur auch in seinem  Film Die Jagd den Zuschauer mit geschickten Winkelzügen in eine emotionale Richtung zu drängen und von dort aus seine Empfindungen zu lenken. In ersterem gelingt es ihm durch die Kombination eines heiklen Themas (Kindesmissbrauch) und die um Authentizität bemühten Regeln des Dogma-Manifestes. Damals, bei meiner ersten und bisher einzigen Sichtung von Das Fest ging dies voll auf. Der Film packte mich mit voller Wucht, ließ mich durch die minimalistische Filmtechnik in das Geschehen eintauchen und emotional eine ähnliche Wut auf den Patriarchen der Familie fühlen wie die von ihm missbrauchten, eigenen Kinder. Jahre später kommt der dänische Regisseur wieder auf dieses Thema zurück, welches über die Jahre nichts von seiner Brisanz eingebüßt hat.

In Die Jagd macht Vinterberg den Zuschauer zu einem der wenigen Kenner der ganzen Wahrheit, die das entstehende Drama des Films verhindern könnte. Lucas, ehemaliger Lehrer und jetzt Kindergärtner in einem kleinen Dorf, wird von Klara des sexuellen Missbrauchs bezichtigt. Was nur Klara, die Tochter des besten Freundes von Lucas, dieser selbst und der Zuschauer wissen: es ist ein Missverständnis. Das durch die Streitigkeiten ihrer Eltern etwas verloren und allein gelassen wirkende Mädchen spricht es aus einer Enttäuschung darüber hinaus aus, dass Lucas ihre kindliche Schwärmerei zurückgewiesen hat. Grete, die Leiterin des Kindergartens, sieht sich gezwungen, Schritte einzuleiten. Sie schaltet die Polizei ein, entlässt Lucas und unterrichtet die Eltern vom im Raum stehenden Verdacht. Der sich nach schwereren Zeiten wieder berappelnde Lucas, dessen noch bei der Ex-Frau lebende Sohn zu ihm ziehen darf und eine kleine Romanze mit einer Küchenkraft des Kindergartens beginnt, sieht sich bald einem wütenden Mob von Dorfbewohnern entgegen, die ihn aus der Gemeinschaft ausgrenzen und ihn ihre Wut und Verachtung gegenüber dem vermeintlichen Kinderschänder spüren lassen.

Vinterberg zieht gezielt die Sympathien des Zuschauers auf den sensiblen und stillen Mann, der mit den Beschuldigungen konfrontiert auf eine seelische Ohnmacht zusteuert. Er macht den von Mads Mikkelsen großartig nuanciert dargestellten Mann zu einem symbolistischen Jedermann, in den man sich hineinversetzen kann und mit seinem Auftreten sich von den anderen Männern des Dorfes, obwohl er ihrem Bund angehört und deren typisch männlichen Ritualen und Verhaltensweisen beiwohnt bzw. aufnimmt, abhebt. Ein modern geprägter Mann, aufgeklärt, rational und trotzdem emotional. Zurückhaltend, fast phlegmatisch lässt der Regisseur den Zuschauer an einem Treffen der Männer des Dorfes und Lucas' Alltag teilhaben, ehe er sich auf den dramatischen Teil seiner Geschichte konzentriert. Da liegen bereits alle Sympathien beim Protagonisten, um aus dem weiteren Verlauf der Handlung eine maximale emotionale Wirkung beim Zuschauer zu erzielen. Hände werden vors Gesicht geschlagen, Figuren wüst beschimpft, Wut entwickelt, wenn die haltlosen Ungerechtigkeiten über Lucas einprasseln. Längst wurde die Unschuld beteuert, sogar die Anschuldigungen zurückgenommen, doch im Moment der gesprochenen Wahrheit wird dies als Nebenwirkung, eine Art Nebenerscheinung des Missbrauchs abgetan.

Die Jagd schildert mit seinem nüchternen Stil, wie eine Lüge, Verdacht, falsche Schlussfolgerungen und Gerüchte wachsen und sich verwurzeln können. Wie Leben und aufgebaute Existenzen beinahe vernichtet werden. Die Macht des Wortes, das sich manifestiert und als unwiderlegbare Wahrheit in den Köpfen der Menschen festsaugt. Vinterberg strickt daraus ein eindringliches Drama und kühle Sozialstudie. Das auf die emotionale Achillesferse des Zuschauers zielende Werk, welches es auch mühelos zu treffen vermag, lenkt damit von fragwürdigen oder irritierenden Punkten der Geschichte ab. Einerseits watscht Vinterberg naive Menschen ab, die in Kindern vollkommen unschuldige Geschöpfe sehen, die nicht dazu in der Lage sind, zu lügen und durch ihre Gutgläubigkeit solche Situationen, wie sie in Die Jagd entstehen, heraufbeschwören. Die dem vermeintlichen Opfer, welches aus einer Laune heraus log, sogar mit suggestiven Methoden beeinflussen um den nicht stattgefundenen Missbrauch zur einzigen (falschen) Wahrheit werden zu lassen. Andererseits weckt dies gleichzeitig eine Ungläubigkeit, das es wirklich solche Menschen überhaupt geben kann/soll. Bevor der Gedanke weiter wachsen kann, lullt Vinterberg nahezu mit der nächsten Attacke auf die offen stehenden Empathieschleusen des Zuschauers ein.

Das fast schlimme, aber auch großartige am Film: es funktioniert, bleibt nachvollziehbar und fühlt sich an, als könnte all das gezeigte wirklich schon passiert sein. Ist Die Jagd allerdings, wie ihm auch vorgeworfen wurde, ein reaktionärer Film? Nein. Viel mehr zielt Vinterberg darauf ab, das Schneeballprinzip falscher Worte und Gerüchte anhand des unbequemen Themas Kindesmissbrauchs aufzuzeigen. Ohne das Thema abzuwerten, baut der Däne in seinem Film einen eigenwillig erscheinenden Kosmos dieser kleinen Ortschaft auf, sinnbildlich für die Gesellschaft, die schnell auf einen vermeintlichen Täter eindrischt ohne auch wirklich die Wahrheit zu kennen. On- wie Offline, auch wenn ersteres komplett vom Film komlett ausgeblendet wird. Selbst nach dem die Polizei alle Anschuldigungen ausräumen konnte, er frei kommt und der Verdacht unbegründet erscheint, bleibt der Mann als Perverser gebrandmarkt. Einmal so, immer so. Gleich, ob dies wirklich die Wahrheit ist. Das alle Frauen des Films negativ dargestellt werden, empfinde ich als unglücklich dargestellt. Wobei ich zugeben muss, dass die Szenen im Männerbund, auf der Jagd nach Wild und auch den Initiationsritus hin zum erwachsen werden mit der Übergabe eines Gewehrs an Lucas Sohn gegen Ende des Films ziemlich unpassend sind. Das ist dann wirklich ewiggestrig; eben reaktionär.

Gegenüber der erstarkenden Frau in der Gesellschaft feindselig und an alten patriarchalischen Strukturen festhaltend ist die Die Jagd weniger. Die Anschuldigungen gegenüber Die Jagd sind nachvollziehbar, entkräften sich in meinen Augen damit, dass Vinterberg sich zu stark auf das innere Gefüge der Dorfgemeinschaft und die auf die Probe gestellte Freundschaft zwischen Lucas und Theo, Klaras Vater, konzentriert und diese etwaigen problematischen Standpunkte nicht beachtete. Vielleicht auch nicht beachten wollte. Als Sozialstudie bleibt es ein unschlagbar guter Film, obwohl das Ende mit dem augenscheinlich in die Dorfgemeinschaft integrierten und rehabilitierten Lucas komisch und unglaubwürdig erscheint. Mit der letzten Einstellung kann der Regisseur und Autor diesen Eindruck entkräften, obwohl die davor geschilderte Story in Verbindung mit der Rehabilitierung Lucas' plötzlich fast lächerlich anmutet. Hunderprozentig gelingt es Vinterberg nicht, dieses fast-hollywood'sche Happy End zu sprengen. Irgendwann stellt man sich die Frage, ob der Regisseur beim Verlauf der Handlung nicht doch nur Klischees verwendet hat, wenn der Verlauf der Hetzjagd auf Lucas so nachvollziehbar erscheint, weil dies eben auch vorhersehbar ist. Dafür hat Vinterberg ein gutes Händchen dafür, den Schneeballeffekt seiner Geschichte mitreißend zu erzählen und daraus eine poitierte Gesellschaftsstudie zu stricken, was Die Jagd zu einem sehr guten Film macht. Selbst wenn er mit der Darstellung eine reaktionäre Haltung vertreten sollte: mit der emotionalen Lenkung des Publikum kann er ebenfalls sehr gut davon wegführen.
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Samstag, 21. April 2018

Chopping Mall

Manchmal braucht es eben einfache Filme. Wenig Handlung, ein straightes Tempo und genügend Schauwerte um auch ja keine Langeweile aufkommen zu lassen. Jim Wynorskis Chopping Mall ist so ein Kandidat, der keinen Hehl daraus macht, die niederen Instinkte des Filmfans ansprechen zu wollen. Die männlichen Figuren sind bis auf den schüchternen, nerdigen Ferdy hohle Grinseköpfe, die Frauen sind, bis auf Ferdys weibliches Pendant Julie, hübsches Beiwerk, das in den entsprechenden Situationen nackte Haut zeigt. Figuren, prädestiniert um reihenweise in den Filmtod geschickt zu werden. Die Gegenspieler: Roboter. Genauer gesagt die drei neuen Security-Roboter der Park Plaza-Mall, welche nach einem Blitzeinschlag ein mörderisches Eigenleben entwickeln und Jagd auf sechs Jugendliche machen. Diese, Mitarbeiter in den im Einkaufszentrum ansässigen Läden, verstecken sich nach Ladenschluss in diesem um eine ordentliche Sause steigen zu lassen. Inklusive Albernheiten, Booze und vorehelichem Sex.

Regisseur Jim Wynorski, der über die Jahre reihenweise kostengünstige B-Schoten runterkurbelte, lässt mit seinem Co-Autoren Steve Mitchell keinen ikonenhaft dargestellten, menschlichen Mörder als moralische Instanz die verkommene Teenieschaft dahinmeucheln, sondern ersann mit diesem eine Mischung aus Nummer 5, BB aus Der tödliche Freund und Robocop in der Light-Version, welche hier die Kids über den Jordan schickt. Dank der geringen Laufzeit von gerade einmal 76 Minuten kommt wenig bis gar kein Leerlauf auf. Die Figuren werden nach einer überdrehten Eingangssequenz, welches das wuselige Alltagstreiben in der Mall zeigt, zügig eingeführt, die Party bietet eine gehörige Portion nackte Haut (die auch davor schon öfter kurzzeitig aufblitzte) und vögelgeile Kids. Dazwischen schlägt der Blitz ein, sein dazugehöriger Donnerschlag bietet die selbstständig werdenden Security-Bots, welche zuerst die Sicherheitsmitarbeiter ausschalten um dann ihr einprogrammiertes Wertesystem eigenwillig selbst auszulegen. Einer der Strahlemänner muss für seine Angebetete Kippen holen gehen und wird erstes Opfer der sich auf ihrem Rundgang befindlichen Roboter.

Die restliche Laufzeit über beschränkt sich das Drehbuch darauf, nach und nach die restlichen Mitglieder der auf steter Flucht vor den Wachrobotern befindlichen Gruppe zu dezimieren. Die geleistete Gegenwehr bietet zuerst geringen Erfolg; mit vereinten Kräften versuchen die verbleibenden Kids die Roboter zu zerstören und einen Weg aus der Nachts komplett abgeriegelten Mall zu finden. Wynorski, welcher seinen Ausführungen nach vor Beginn der Dreharbeiten von Roger Corman zum Essen eingeladen und dort in einer Stunde nochmal die Grundvoraussetzungen für kostengünstiges, effektives Filme machen gelehrt bekam, verknüpft in seinem Chopping Mall gängige Horrorfilmmuster und Klischees und ist - glücklicherweise - dabei so selbstbewusst, daraus keinen Hehl zu machen, das dies so ist. Die von ihm hinzugefügte Prise Humor sitzt zwar nicht immer, ist aber nicht gänzlich peinlich oder abgestanden. Manche Pointen sitzen und so entwickelt sich das Ding zu einem wahren Fun Movie, der bevor er irgendwie weh tun kann auch wieder vorbei ist. Mit Barbara Crampton, die den Fans ein Jahr zuvor in Stuart Gordons Re-Animator auffiel, in einer größeren Rolle und Darstellern wie Paul Bartel, Dick Miler, Mel Welles und dem aus der Phantasm-Reihe bekannte Angus Scrimm (hier unter seinem bürgerlichen Namen Lawcrence Guy unterwegs) bietet er dabei allerlei bekannte Gesichter in kleineren Rollen, die Fans des Genres ein kurzes, aber freudiges Grinsen ob des Wiedersehens ins Gesicht zaubert.

Dazu spielt der Film immer wieder auf viele Filme des Corman'schen Unviversums an: in einem Restaurant im Einkaufszentrum hängen Filmplakate von dessen Produktionen an den Wänden (!), Julie und Ferdy schauen sich zusammen Attack Of The Crab Monsters an, Dick Miller heißt wieder - wie in Das Vermächtnis des Prof. Bondi aka A Bucket Of Blood - Walter Paisley und auch sonst zeigt sich der Film sehr zitier- bzw. anspielungsfreudig. Das ist, anders als bei heutigen (retro gerichteten) Werke, ohne Metaebene, sondern weil Wynorski und Mitchell einfach Bock darauf hatten. Die Without any sense-Haltung der beiden Autoren und Wynorskis zweckdienliche Regie lässt Chopping Mall im Endeffekt gewinnen. Das gezeigte mag zuerst formelhaft, zweckdienlich, abgeschmackt und repetitiv wirken; anders als Produktionen aus dem Hause Full Moon, an die Wynorskis Film in einigen Momenten durch die Nutzung der Exploitation-Elemente und die knackige Laufzeit erinnert, fühlt er sich echter an als diese, obwohl die Cormans natürlich ebenfalls mit genauem Kalkül und Blick auf den Ertrag des Films arbeiten. Dazu kommt das, was man nur bei wenigen Full Moon-Produktionen, um diesen Vergleich nochmals heran zu ziehen, spürt: bei aller kommerzieller Ausrichtung merkt man Chopping Mall, in Deutschland ganz einfallslos Shopping genannt, das Herzblut seiner Macher an. Das ist eine Lust auf Filme machen, auf einfach los drehen, was dank der weiter entwickelten Technik über die weiteren Jahre immer mehr Amateure taten, nur das deren Herzblut nicht die Limitiertheit ihres Könnens kaschieren konnte. Selbst wenn er später einfach nur noch kurbelte, was ging, zeigt Wynorski mit diesem Werk, dass er zwar kein großartig toller Regisseur ist, aber in guten Momenten, mit richtig viel Bock, richtig spaßige kleine B-Knaller á la Chopping Mall machen kann.


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Mittwoch, 11. April 2018

The Tall Man

Pascal Laugier brauchte wenige Versuche, um sich in den Herzen hartgesottener Horrorfilmfans zu verankern. Die New Wave of French Horror erhielt durch seinen zweiten Film Martyrs einen ersten Höhepunkt. Es ist auch einer der wenigen Filme, deren Durchschlagkraft dauerhaft wirkt: es mag paradox klingen, dass ich diesen zwar gerne wieder in Sammlung stellen, aber so schnell nicht mehr schauen würde. Aktuell läuft mit Ghostland Laugiers neuester Anschlag auf die Nervenkostüme der Zuschauer in den Kinos. Zwischen diesen beiden Werken schuf Laugier The Tall Man, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob der Druck nach seinem Erfolgsfilm zu groß war oder er aber bewusst nicht noch einen blutigen Schocker machen wollte. Da der Film weitaus leisere Töne von sich gibt, war die Enttäuschung im Lager der nach Blut und Gekröse gierenden Fans groß. The Tall Man ist mehr ein Mysterythriller, der in seinem finalen Akt auch gerne ins dramatische Fach wechselt.

Einer Sache bleibt Laugier treu: in seine Geschichte nicht erwartete Wendungen einzubauen, die - das muss man zugeben - mit der ersten in der besten Tradition Hitchcocks dem Zuschauer vor den Kopf stößt und wirklich überrascht. Er wendet das beim Publikum entstandene Bild über seine Protagonistin Julia um 180 Grad zu einem Zeitpunkt, in dem man in jedem weiteren Moment mehr mit dieser bei ihrer Suche nach ihrem verschwundenen Sohn David mitfiebert. Julias Sprössling ist leider nicht das erste Kind, welches im verarmten und heruntergewirtschafteten Dorf Cold Creek verschwindet. Das durch die Schließung der einst (über)lebenswichtigen Miene stark gebeutelte Örtchen kämpft schwer damit, dass immer wieder in unregelmäßigen Abständen die Töchter und Söhne der am Existenzminimum wandelnden Familien verlorengehen. In Cold Creek geht die Legende um vom "Tall Man", einer schwarz gewandeten Kreatur, welche in den nächtlichen Stunden die Kinder des Dorfs entführt und mit sich nimmt. Julia, Witwe des Dorfarztes und Krankenschwester, macht sich nach Davids Verschwinden entschlossen auf, diesen aus den Fängen des unheimlichen Wesens zu befreien und entdeckt dabei die Wahrheit hinter dem Tall Man.

Ab diesem Zeitpunkt schüttelt Laugier seine Geschichte gründlich durch und setzt deren Grundgerüst anhand dieser Twists immer neu zusammen. Ein Rezept, dass auch bei Martyrs vortrefflich funktionierte. Die zwei größten Wendungen, die nahe beieinander liegen, rütteln nicht nur die Grundkonstellation der Story gründlich durch. Der Regisseur und Autor platzierte sie unglücklich zu einem Zeitpunkt, in der man als Zuschauer mehr und mehr Zugang zur kühlen und in konventionellen Bahnen laufenden Mysterystory bekam. Nach den ersten Sichtungen des titelgebenden Geschöpfs und seinem Lastwagen, werden kleine Erinnerungen an Victor Salvas Jeepers Creepers wach und wecken Erwartungen an die Geschichte, die Laugier bewusst nicht erfüllen möchte. Auch wenn der Franzose mit der ersten Hälfte das Rad nicht neu erfindet, dafür aber die Settings des Orts mit trostlos kühlen Bildern und einem Gespür für Details sehr authentisch erscheinen lässt, findet man - wenn auch mühsam - einen Weg in die Geschichte. Deren um Spannung bemühter Aufbau mit altbekannten Mustern wird von Hauptdarstellerin Jessica Biel aufgewertet, durch deren engagiertes und gutes Spiel die in der Erzählung mangelnden Emotionen beigefügt werden. Die Entscheidung Laugiers in seiner Funktion als Autor, die bisherigen Ereignisse auf den Kopf zu stellen, stoßen nicht nur wie angesprochen vor den Kopf: sie hinterlassen sogar einen säuerlichen Nachgeschmack. Ein gewolltes Anecken, ein Spiel mit Wahrnehmung der Protagonisten und des Zuschauers, das nicht richtig aufgehen mag.

Bald kann man dem franzözischen Filmemacher Faulheit vorwerfen. Halbwegs funktionierende, schockierende Twists lenken The Tall Man weg vom angedeuteten, übernatürlichen Mysteryschocker zu einem Thrillerdrama, das den schemenhaften bösen, schwarzen Mann als einen vom Menschen geschaffenen Schrecken enttarnt. Schon in Martyrs ließ Laugier den übernatürlichen Aspekt fallen um einem realistischeren Unterbau Platz zu machen. Man kann nachvollziehen, dass der Regisseur nicht 1:1 das gleiche, nur mit einigen Änderungen schaffen wollte. Es war mutig, nach einem eben auch bei Splatterfans gefeiertem Film nun den entgegengesetzten Weg zu gehen. Laugier schuf damit seine Form der Provokation, will aber um deren Willen heraus es so einfach wie möglich machen. Dazu kommt eine Auflösung, die mit weiterem Handlungsverlauf ein fragwürdiges Gedankenkonstrukt offen legt, gebettet in einen Thriller mit Sozialdramazügen. Richtig konnte ich mich damit nicht anfreunden; zu verquert erscheint das, wobei Laugier schon interessante Fragen aufwirft. Im Endeffekt kehrt er selbst hier zu Martyrs und den darin aufkommenden Gedanken zurück, wie weit der menschliche Wille des Forschens gehen kann bzw. sollte. In The Tall Man beschäftigt sich Laugier mehr damit, wie weit man als Mensch gehen kann und verloren geglaubte Existenzen mit neuen Chancen im Leben geben kann und dabei auch billigend neu aufkommendes Leid zu schaffen. Das ist durchaus interessant Horror oder Mystery mit sozialethischen Fragen zu kombinieren, kann im gesamten nur bedingt fesseln. Irgendwo wiederholt sich Laugier doch, trotz seines Versuchs, eine neue Geschichte zu erzählen. The Tall Man positioniert sich damit leider im Mittelmaß, lässt seinen Macher dafür weiterhin ebenfalls interessant erscheinen.

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Dienstag, 10. April 2018

Ein Mann sieht rot

Die Welt wurde 1968 von der Hippie-Bewegung überrollt, einhergehend mit weitreichenden Studentenprotesten, um dem konservativen, angestaubten Establishment mit seinen alten, überholten Werten eine weltoffene Sicht der Dinge entgegenzustellen. Make love, not war. Frieden auf der ganzen Welt war die Prämisse. Kriegerische Auseinandersetzungen wie in Vietnam wurden aufs schärfste Verurteilt. Piep, piep, piep - wir haben uns alle lieb! Paradiesische Zustände sollten in den cannabisverquarzten Köpfen der träumerischen Protestler, in bewusstseinserweiternden Zuständen erdacht, auf der Welt herrschen. Eine schöne Vorstellung; erstrebenswert. Die letzten Jahrzehnte lehren uns, dass davon einiges, aber immer noch zu wenig realisiert wurde. Kulturell schlug das miefige Establishment seit Beginn der 70er mit reaktionärem Kino zurück: Selbstjustiz und Rache zogen sich in großen wie kleinen Produktionen durch das Jahrzehnt. Sam Peckinpah präsentierte 1971 Wer Gewalt sät, die durch steigende Kriminalitätsraten überforderte Polizei erhielt mit Clint Eastwood in Dirty Harry einen das Gesetz zu seinen Gunsten auslegenden "Peacemaker". 1972 erschufen Wes Craven und Sean S. Cunningham mit Last House On The Left quasi das Rape and Revenge-Subgenre, dessen erster, dauerhaft in die Magengrube feuernde und unbequeme Höhepunkt einige Jahre später Meir Zarchis I Spit On Your Grave wurde.

Mit dem 1974 erschienenen Ein Mann sieht rot, jüngst von Eli Roth mit Bruce Willis in der Hauptrolle neu verfilmt, verwurzelte sich der Rache-Thriller noch etwas tiefer im Mainstream. Michael Winner, der zuvor schon häufiger mit Charles Bronson zusammenarbeitete, prägte außerdem mit diesem Film dessen spätere Karriere in den 80ern als alternden, unnachgiebigem Vigilanten. Bis dorthin, ausgehend vom 1982 entstandenen zweiten Teil zu Death Wish, so der Originaltitel, ist es ein weiter Weg. 1974 ist Bronsons Paul Kersey ein liberal eingestellter Mann, der auch durch persönliche Erfahrungen die Ansichten seines Arbeitskollegen, der Kersey nach seinem Urlaub u. a. mit Kriminalstatistiken konfrontiert, nicht teilt. Das die Stadt bei weitem nicht der paradiesisch anmutende Ort, in dem der Bauingenieur mit seiner Frau die freie Zeit genoss, ist, zeigt nicht nur der rot schimmernde Himmel, der in bedrohlichem Rot bei ihrer Rückkehr nach New York erleuchtet. Nach einem Einkauf werden Kerseys Frau Joanna und seine Tochter Carol in ihrer Wohnung von drei Kleinkriminellen überfallen; Joanna stirbt an den Folgen des gewaltsamen Übergriffs, Carol erleidet durch den Vorfall und ihre Vergewaltigung ein schwerwiegendes Trauma. Kerseys Verlangen, selbst Rache zu üben, wächst langsam. Begebenheiten in der Notaufnahme, eine unbefriedigende Unterredung auf der Polizeiwache und nicht zuletzt ein beruflicher Abstecher nach Texas, bei dem ihm ein Kunde seiner Firma, ein Vollbluttexaner, seine Sicht auf die Dinge und die Welt näher bringt, lassen das bisherige Weltbild Kerseys wanken.

Final stürzt es ein, als er zurück in New York auf dem Heimweg überfallen wird und diesen mit Gegenwehr glücklicherweise vereiteln kann. Kersey bewaffnet sich daraufhin mit dem Abschiedsgeschenk seines Kunden, einem Revolver, um des Nachts den kriminellen Schmutz von der Straße zu räumen. Schnell werden die Medien und auch die Polizei auf den selbsternannten Rächer aufmerksam. In seinem Review zu Ein Mann sieht rot bemerkt Oliver Nöding, dass nach so vielen Jahren sich bisher niemand komplett positiv zu diesem Film äußern will oder kann. Verherrlichung von Selbstjustiz, Verbreitung von Nulltoleranzdenken im Bezug auf Kriminalitätsbekämpfung wurde oder wird Winners Film vorgeworfen. Ist in den heutigen Zeiten der (manchmal übertriebenen) Political Correctness es noch schwieriger, ein komplettes, wertendes Urteil über Ein Mann sieht rot abzugeben? Darf man sowas heute überhaupt noch gut finden? Unter Vorbehalt: ja. Man kommt nicht drumherum zuzugeben, dass Winners Film gut gemacht und atmosphärisch dicht ist. Formell betrachtet krankt er erzählerisch an der episodenhaften zweiten Hälfte des Films, die Kersey in Aktion zeigen. Da verflacht die Geschichte und es wird ein konventionell wirkender Actionkrimi, der zwei Männer auf der Jagd im Großstadtdschungel zeigt. Kersey, bei allem Zwiespalt gegenüber seinem mörderischen Treiben, wenn er dieses beginnt und den ermittelnden Beamten Ochoa. Winner folgt hier stur dem gleichen Muster, zieht die Schlinge um Paul Kersey Stück für Stück weiter zu, folgt seiner Vorstellung, in der Ein Mann sieht rot "nur" ein Actionthriller ist und beschäftigt sich nicht weiter mit seiner Hauptfigur.

Was den Film zweifelhaft macht, ist seine distanzierte Betrachtungsweise in seiner zweiten Hälfte. Winner erzählt einfach, zeigt das Geschehen; er ist gleichzeitig immer nahe bei Kersey und lässt uns an diesen, an sein Denken, nicht richtig heran. Weiter betreibt er dort einen Abgesang auf den Staat und dessen Gesetzeshüter, die macht- und ahnungslos dem mörderischen Treiben eines einzelnen Mannes zuschaut, wie er mit simplen Regelwerk Legislative, Judikative und Exekutive gleichzeitig darstellt. Der Film bezieht keine Stellung, gleitet dem Zuschauer davon, dem er zuvor Kersey als einen aufgeschlossenen Mann zeigte, ihn nahe an dessen Schicksal teilnehmen ließ. Für mich, der durchaus ein Faible für Rachegeschichten im Film hat, hinterließ er durch das Verhalten der Polizei gegen Ende einen sehr seltsamen Beigeschmack. Ratlos und von der Öffentlichkeit in eine Ecke gedrängt, entscheidet sich die Gesetzgebung, die letzte moralische Instanz der Geschichte um den Zuschauer mit einem guten Gefühl zu entlassen, sehr überraschend für einem Weg, der das Publikum alleine mit seinen Emotionen zwischen Mitgefühl für Kerseys Person und Verurteilung seiner Taten schwankt. Das macht Ein Mann sieht rot, der durch Winners Gespür für effektives Actionkino durchaus mit dem Prädikat "gut gemacht" versehen werden kann, zu einem auch heute noch leicht schwierigen Kandidaten. Es sollte jeder für sich entscheiden, ob man hier nun einen, zwei oder keinen Daumen dafür recken kann. Unter Vorbehalt mache auch ich das. Die persönliche Vorliebe für Rachestories kann auch nicht komplett unterdrückt werden. Gespannt bin ich nun allerdings auf die Fortsetzungen, die - in den Händen von Cannon Films - mit ihrem erzkonservativen, reaktionären Auftreten Winners Film sehr harmlos aussehen lassen sollen. Dieser deutet ungewollt mit der letzten Einstellung Kerseys Charakter in diesen an und macht - ganz neudeutsch gesprochen - Ein Mann sieht rot zu einem Origin für diese, während der Erstling einen leicht ratlos zwischen gut finden und in Frage stellen schwanken lässt.
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Donnerstag, 5. April 2018

The Good Neighbor - Jeder hat ein dunkles Geheimnis

Im Grunde genommen ist The Good Neighbor - der ganz typisch für den hiesigen Markt vom Verleih OFDb Filmworks mit einem total unnötigen, die Handlung anschneidenden Untertitel versehen worden ist - ein geradlinig konzipierter Thriller. Seine verschachtelt erzählte, sich auf mehrere Zeitebenen abspielende Handlung und deren Twist ist durch diese gewählte Narrationsart irgendwann leicht abzusehen. Man kann nachvollziehen, wieso die Autoren Mark Bianculli und Jeff Richard diese Form gewählt haben und erst mit der Zeit - in Häppchen - die ganze Wahrheit aufdecken. Wahrheit und falsche Wahrnehmung Aufgrund vorschnell gezogener Schlüsse und Urteile, ist das grundlegende Thema des Films. Der Person of interest, der grummelige Harold Grainey, soll das mysteriöse, leicht unheimlich wirkende Image gewahrt werden, die sie auch bei den beiden Teenprotagonisten Ethan und Sean besitzt. Ersterer geht davon aus, dass dieser seine jetzt verschwundene Ehefrau geschlagen hat. Dazu bedroht Grainey jeden Fremden oder anderen Nachbarn, die ihn Nerven oder in die Quere kommen.

In den Augen Ethans besitzt Grainey die besten Voraussetzungen, um Hauptperson in einem perfiden Experiment zu sein. Während des wöchentlichen Einkaufs dringen die zwei Jugendlichen in das Haus ihres Nachbarn ein, installieren Kameras und allerlei Elektronika, um ihn dabei zu Filmen, wie er bei von ihnen hervorgerufene Heimsuchungen eines "Geistes" reagiert. Das Experiment soll über sechs Wochen andauern und dann im Internet veröffentlicht werden; der sehr überzeugte Ethan sieht sich schon als zukünftiger Superstar, während sein ruhiger Freund Sean Skepsis und Skrupel zeigt. Während der ersten Heimsuchungen reagiert ihr Nachbar nur anders als erwartet und nährt damit das in Ethans vorherrschende Bild über den alten Mann, verschwindet er doch bei den ersten Geistererscheinungen über Stunden im Keller. Die beiden vermuten, dass Grainey dort ein dunkles Geheimnis bewahrt und beschwören damit eine Tragödie herauf. Neben diesem Handlungsstrang springt der Film in kleine Sequenzen, welche die auf die Handlungen der beiden Jungs folgende Konsequenzen schildert, während zusätzliche Flashbacks dem Zuschauer ebenfalls in kleinen Zwischenspielen das angeblich schreckliche Geheimnis des alten Mannes offenbaren.

Das Ansinnen des Films, den Zuschauer damit gleichzeitig rätseln zu lassen, ob hier wirklich ein potenzieller Krimineller, vielleicht sogar Mörder, in der Nachbarschaft der Jugendlichen lebt und gleichzeitig die auch vom Publikum gezogenen Schlüsse zu widerlegen, lässt die gewollte Spannung nicht zur Gänze hochkochen. Eine verschachtelte Erzählstruktur allein ist nicht mit Cleverness verbunden; die Absicht, den Spannungsbogen anzuziehen, ist erkenn-, allerdings nicht spürbar. Mit den Rückblenden in Graineys Vergangenheit bekommt dieser Bogen leichte Durchhänger und lässt seine Story vorhersehbar erscheinen. Wäre da nicht der Unterbau von The Good Neighbor. Kasra Farhanis Debütfilm wirft gleichzeitig Fragen auf und regt zum Nachdenken an, wie in Zeiten von Internet und Social Media anhand einiger vermeintlicher Fakten, Beobachtungen und Aussagen Menschen in einem vollkommen falschen Bild erscheinen. Die Macht der Gerüchte und ihre Auswirkungen, dass vorschnell gezogenen Schlüsse wie hier in wahrhaftige Tragödien kulminieren, erzählt Farahani überraschend routiniert und für den Zuschauer nachvollziehbar. Das Setting dürfte man sicher mehr oder weniger selbst einmal mitbekommen haben, wenn verschiedene Parteien von ihrer Fantasie und vermeintlicher Kombinationsgabe, Anhand dieser Eigenschaften eine "Wahrheit" bezüglich ihrer Mitmenschen stricken.

The Good Neighbor geht auch der Frage auf den Grund, wie weit der Mensch seine ethischen Überzeugungen verbiegen kann, um im Rampenlicht zu stehen. Die 15 minutes of fame sind in der schnelllebigen Zeit des Internets, mit seinen kurzlebigen Memes und Phänomenen, gefühlt schneller vorbei als damals, als man von der dauerhaften Datenautobahn nur träumen konnte. Ethan steht dabei für den Schlag von Mensch, der ohne mit der Wimper zu zucken aus dem Leid Dritter Kapital schlagen möchte. Einzig und allein der dadurch aufkommende, zweifelhafte Ruhm soll mit dem zuerst als ernsthaft dargestellten psychologisches Experiment geerntet werden. In Zeiten von Hatespeech, Swatting und anderen (kriminellen) Handlungen im Internet ist Ethans Versuch pervertiertes Trollen eines Menschen, an dem man sich nur wegen einiger Gerüchte und eigenen Beobachtungen festgebissen hat. Ein richtiges Statement dazu liefert The Good Neighbor nicht. Der Film nimmt schnell eine neutrale Rolle eines stummen Reports ein und wird zu einer Chronologie der geschilderten Tragödie mit beißendem Ende, wenn Ethan, anders als geplant, plötzlich wirklich im Rampenlicht steht. Wahrscheinlich kann der Film auch deswegen nicht komplett packen. Dafür ist er ein überraschend intelligent gemachtes Debüt, das die ansonsten einfache Thrillerhandlung hübsch aufwertet.
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