Donnerstag, 19. Juli 2012

Belle de Jour

Oh la la! Die nun ein Jahr währende Ehe zwischen dem angesehenen Arzt Pierre und der etwas kühl und reserviert erscheinenden Séverine dauert nun schon ein Jahr und im großen und ganzen ist diese auch wirklich als makellos zu bezeichnen. Doch wie heißt es ja immer so schön: "Wenn das Wörtchen Wenn nicht wär..." In diesem Falle bedeutet es, dass sie junge Dame sich den ehelichen Pflichten dem Gatten gegenüber verweigert und aus lauter Angst und Scham die Nacht doch lieber in ihrem Bett verbringt. Pierre bringt dabei alle Zeit der Welt und eine äußerst große Portion Verständnis mit sich. Er wartet bis sie bereit ist und möchte sie zu nichts drängen. Der Zuschauer weiss zu diesem Zeitpunkt allerdings schon, dass er dies doch ruhig mal versuchen sollte!

Die keusche Dame verlustiert sich nämlich in so manch' deftige, sado-masochistisch angehauchte Tagträumerei. Das ihre Zugeknöpftheit allerdings auch manch andere Männer äußerst anspricht, merkt sie an Pierres Bekannten Henri. Dieser macht - wohl gemerkt in der Abwesenheit von Pierre - keinen Hehl daraus, dass er gerne mal die Laken mit Séverine zerwühlen würde. Bei dieser bringen solche Äußerungen allerdings keine Pluspunkte bei der Sympathie, bringt sie doch eh schon eine gewisse Abneigung gegen diesen auf. Trotzdem ist es ausgerechnet Henri sowie das Gerede über eine gemeinsame Bekannte, welches die Initialzündung für Séverines langsames Entdecken der eigenen Sexualität ist. Besagte Bekannte arbeitet nebenher als Freudenmädchen. Noch ist Pierres Gattin etwas geschockt von dieser Tatsache, doch die Neugier treibt sie an. Als Henri im Gespräch über diesen Verhalt eine Adresse nennt, bei der ab und an einging um den Hormonhaushalt zu regulieren, packt es Séverine.

Sie sucht diese Adresse, die Wohnung einer gewissen Madame Anais, auf. Diese empfängt sie auch mit offenen Armen und obwohl es Séverine zu Beginn noch sehr widerstrebt: nach anfänglichen Schwierigkeiten gewöhnt sie sich immer mehr an ihr verborgenes Wirken als Lustdame. Sie nimmt den Namen "Belle de Jour" an, da sie immer nur für einige Stunden am Tage ihrem Werke nachgehen kann. Auch wenn es hier und da noch etwas schwierig für sie im Umgang mit einigen Kunden der Madame ist, ist sie dennoch sehr gefragt bei diesen. Dann taucht allerdings der Kleinganove Hippolyte mit seinem jungen Kumpel Marcel auf. Letzterer beansprucht die Werte "Belle de Jour" für sich und lässt sich von ihr den Kopf verdrehen. Auch Séverine fühlt sich zu dem sehr nervösen und ab und an recht schnell aggressiv werdenden Jüngling hingezogen, was allerdings auch ein gewisses Drama mit sich zieht.

Bis Luis Buñuel in seiner Adaption des gleichnamigen Romans aus dem Jahre 1928 von Joseph Kessel dem Drama aber seinen Lauf gewährt, zelebriert er aber mit noch größerer Lust bzw. Fingerfertigkeit nicht nur die für den Regisseur bekannten Surrealitäten des Stoffs. Buñuel versteht es auch sehr schön, die Beziehung zwischen den beiden jungen Verheirateten mit sicherer Hand zu sezieren. Kennt man seine Frühwerke Ein andalusischer Hund (1929) sowie L'Âge D'or - Goldene Zeiten (1930), in Zusammenarbeit mit dem Maler Salvador Dali entstanden, ist man zuerst einmal doch sehr überrascht, wie gering hier die surrealistischen Momente doch eigentlich sind. Sind diese beiden ersten, frühen (skandalträchtigen) Werke noch durch ihre bloße Kraft ihrer Bilder wahre, wortwörtliche Trips, konzentriert sich der Meister hier lieber auf eine lineare Geschichte. Sicherlich, Vergleiche lassen sich mit seinen beiden surrealen Meisterwerken und Belle de Jour in keinster Weise ziehen. doch Buñuel baut eben solche Elemente hier, wie auch in späteren Werken ein, lässt diesen aber erst in seinem wunderbaren Das Gespenst der Freiheit (1974) wieder so richtig freien Lauf.

Konzentriert man sich also wieder auf Belle de Jour, fällt vor allem der erlesene Cast auf, über dem vor allem Catherine Deneuve thront. Ihr nimmt man zu jeder Minute diese innere Zerissenheit zwischen Keuschheit und ihren sexuellen Fantasien ab. Ihre Unsicherheit vor dem inneren Selbst, was da so vor sich hinbrodelt. Vor allem diese gewisse Angst, die sie in einer Szene auch selbst zugibt, die da vor Pierre bzw. vielleicht sogar vorm ganzen Geschlecht, die in intimeren Momenten mit dem Gatten immer wieder aufblitzt. Hier scheint eine kurze Traumsequenz, welche wie die anderen wirklich unmerklich und fließend in die restliche Handlung eingewoben ist, nur kurz Aufschluss zu geben, wieso Séverine überhaupt so tickt. Ihr kindliches Ich wird von einem strengen, nicht näher benannten Mann festgehalten und gegen den Leib gedrückt. Eine kurze Anspielung auf Missbrauch? Der ängstliche Blick des Mädchens lässt Raum für diese Interpretation. Oder es ist eben generell der strengere Umgang, der in ihrem Elternhaus geherrscht haben mag. Buñuel lässt dies außen vor.

Viel mehr schaut er hier auf die beiden Seiten, beide Fassaden der weiblichen Protagonistin. Die Angst vor der eigenen Sexualität. Ja, selbst in heute so offenen Zeiten gibt es das ja noch und bei Séverine scheint es daher zu rühren, dass ja ihre Fantasien, in die sie sich ab und an flüchtet, ja nicht die "normalsten" sind. Wenn Sexualität insoweit nie größeres Thema innerhalb des Konstrukts der Familie war, totgeschwiegen wurde und wie ein Tabu behandelt wird, können solche immens einschüchternden Fantasien zu Überforderungen führen. Im Kontakt mit den neuen Kolleginnen, der Madame selbst oder auch den ersten Kunden führt dies zur Flucht. Einer Flucht vor dieser so völlig neuen, für Séverine so bizarr ausschauenden Sache. Da rennt sie ein Stück weit auch vor sich selbst Weg. Das brave ich gegen das neugierige ich, welches aufgeweckt wurde. Welches zeigt, dass auch sie sehr wohl sexuell Aktiv sein  kann. Sie erscheint hin und hergetrieben. Gewillt, dem größten Wunsch des Gatten stattzugeben und sich nicht nur für kurze Momente in die Arme dessen zu wiegen.

Hier erkennt man, wie wenig sich die junge Frau selbst zu kennen scheint. Trotz der gewagten Fantasien, die Buñuel sehr gekonnt inszeniert. Stilsicher, nie ins Selbstzweckhafte abgleitend, wird viel gezeigt aber noch genügend dem Kopfkino überlassen. Allerdings schafft er mit der Anfangssequenz dennoch einen sehr direkten, überraschenden Einstieg. Ein klein wenig provozierte der gebürtige Spanier doch eben gerne. Er behält aber immer zum richtigen Zeitpunkt die Contenance, welche bei seiner weiblichen Darstellerin im Verlauf der Geschichte immer weiter abblättert. Der anfängliche Schock über den von Madame Anais verlangten Kuss: gegen Ende von Belle de Jour ist dies für Séverine ein Klacks. Sie hat gekämpft. Im Inneren: mit und gegen sich. Es war aber ein befreiender Kampf, an dessen Ende sie auch mit Pierre endlich im Reinen sein kann. Die Keuschheit war vielleicht nur ein kleines Stück eines viel größeren Ganzen. Zuerst muss sie sich erst selbst erkennen, mit sich im Reinen sein um so viel mehr bzw. besser zu sich selbst zu stehen.

Die geheimsten Wünsche, die da in ihr leben und draußen drängen: Pierre kann ihr hier nicht helfen. Viel zu brav und bieder giebt sich der Arzt. Wie man eben nun mal so ist, im gehobenen Bürgertum. Alle sind sie versaut, huren rum, haben Affären. Nur Pierre ist aalglatt. Buñuel bringt auch diesen Charakter schön auf den Punkt. So gut, dass Darsteller Jean Sorel immer etwas blass erscheint in seinem Spiel. Man kann es reduziert nennen. Doch Sorel kann auch anders, wie zum Beispiel im herrlichen nonkonformen Giallo Malastrana (1971). Egal ob Giallo oder eben solche feinen Charakterstudien wie Belle de Jour: Sorel ist überall gern zu Hause und gern gesehen. Doch hier bleibt er etwas hinter den Erwartungen zurück, spielt zurückhaltend, doch hier ist es etwas zuviel des Guten. Ein Totalausfall ist er natürlich nicht. So verstärkt dies allerdings auch noch das Bild zwischen ihm und seiner Ehefrau, das sich beim Zuschauer ergibt. Séverine liebt diesen Mann, doch ihre Sexualität kann er nicht erfüllen. So wenig greifbar und kantig, wie sein Charakter ist, so unbrauchbar ist dies für so eine Frau.

Nur in ihrem Fantasien darf er so sein, wie sie ihn gerne hätte. Alles andere lebt sie bei Madame Anais aus. Mit den verschiedensten Kunden. Ihre Wandlung geht langsam von statten. Langsam aber bemerkbar. Bis sie auf Marcel trifft. Dessen Darsteller, Pierre Clementi, ist bravourös darin, wenn es darum geht, exzentrischen Figuren Leben einzuhauchen. Der leider schon verstorbene Pariser war sich wie Kollege Sorel auch nie zu Schade für Genreproduktionen und brilliert u. a. im italienischen Thriller Der Todesengel (1971), welcher sichtlich von Hitchcocks Der Fremde im Zug (1951) beeinflußt ist. Sein Marcel scheint Séverine letztendlich vollends zum Erblühen zu bringen, obwohl er so jemand ist, vor dem Mütter ihre Töchter immer warnen. Ein verwegener Bursche, undurchsichtig, impulsiv. Gerade solche harten Hunde haben aber eben eine große Wirkung auf manche Frauen. Somit ist diese Figur auch ideal geeignet, um dem Stoff noch eine gewisse dramatische Neigung zu verleihen. Wobei Buñuel hier im Finale aber auch viel Schabernack treibt und sehr gut mit den Traumsequenzen spielt. Es ist nicht mehr wirklich eindeutig erkennbar, was sich nun überhaupt in Séverines Fantasie abgespielt hat und was nicht.

Es bleiben Spekulationen und selbst der Regisseur gab einmal zu, dass er selbst das Ende seines Filmes nicht richtig versteht. Dabei kann man nicht mal sagen, dass er sich übernommen hat mit dem Stoff. Geradezu filigran wird hier die Geschichte um die sexuelle Erfüllung einer Frau gesponnen, die sich ausgerechnet als Prostituierte ausleben kann und zu sich selbst findet. Aber wieso auch nicht. Séverine ist immer bedacht, einen Skandal in ihren Kreisen zu vermeiden, kommt im schwarzen Dress und mit Sonnenbrille zur Arbeit, um eben nicht erkannt zu werden. Sicher: in solchen Kreisen wäre ein Skandal bei Bekanntwerden unvermeidbar. Aber: das Gerede um die Bekannte zu Beginn scheint diese auch nicht zu stören? Buñuel kratzt hier auch noch etwas das gehobene Bürgertum an bzw. die generelle moralischen Vorstellungen der damaligen Zeit. War er da schon einer derjenigen Personen, die man heute "open minded" nennen würde?

Anders als Kollege Chabrol, welcher auch gerne kreissägenmäßig und trotzdem auf den Punkt das gehobene Bürgertum mit all seinen großen und kleinen Verlogenheiten sezierte, setzt Buñuel auf leise Töne. Gibt der Geschichte den Vorzug, hält sich selbst und auch den moralischen Zeigefinger im Hintergrund. Der von Michel Piccoli dargestellte Henri ist auch so ein Freigeist, der sehr offen mit seinen Neigungen umgeht. Zu Beginn wird er deswegen von Séverine noch als "Pervers" bezeichnet. Obwohl sie selbst durch ihren Hang zum Masochismus, gerade zur damaligen Zeit (der Film enstand 1967) doch auch "pervers" veranlangt ist. Aber das das schöne. Der Film verurteilt nicht. Und: Belle de Jour bleibt auf das nötigste reduziert. In schönen, aber nicht zu aufdringlichen Bildern erzählt man hier und selbst der Verzicht auf einen Soundtrack ist nicht im geringsten verwunderlich bzw. störend. Belle de Jour funktioniert wunderbar. Wirkt eher wie ein Sittenbild, mit schönen surrealistischen Elementen angereichert und meist wirklich gut agierenden Darstellern versehen.

Vor allem ist es ein sehr toller Film eines außergewöhnlichen Regisseurs, der gerade durch seine Reduziertheit und Aufgeräumtheit glänzen kann. Belle de Jour ist klassisches Erzählerkino, der mit seiner Geschichte und dem langsamen Stil nicht jedermanns Sache in der heutigen, so schnelllebigen Filmzeit sein dürfte. Wer aber auch mal schön ausgereifte Charakterstudien nicht abgeneigt ist, der sollte sich sofort dem Charme dieses Films ergeben und mit Luis Buñuel auf eine Reise in die "Abgründe" und Fantasien einer Dame gehen. Diese lohnt sich ungemein und gibt gerade durch sein sehr offenes und schlicht und ergreifend (schön) verworrenes Ende immer wieder Gelegenheit, sich diesen nochmals anzuschauen. Ein ganz großer Wurf!
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