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Montag, 5. Dezember 2022

Thriller - Ein unbarmherziger Film

Bo Arne Vibenius scheint diversen Berichten und seinem Auftreten in den letzten Jahren nach kein einfacher Mensch zu sein. Im Gegensatz dazu verfolgte er mit seinem bekanntesten Werk eine konkrete, klare Absicht: Thriller sollte nichts weniger als der kommerziellste Film aller Zeiten werden. Desillusioniert, frustriert und einer drohenden Pleite entgegenblickend - sein teils selbst finanzierter Debütfilm Hur Marie träffade Fredrik erhielt gute Kritiken, floppte aber an den Kinokassen - sollte diese Arbeit einzig dazu dienen, um schnelles Geld zu machen. In drei Tagen und Nächten hämmerte der Schwede auf seine Schreibmaschine ein, um ein Script zu schaffen, welches überaus karg die Geschichte von der traumatisierten Madeleine (in der englischen Synchronfassung benannte man sie in Frigga um) erzählt, die im Kindesalter von einem geistig beeinträchtigten Mann sexuell missbraucht wurde. Seitdem stumm, gerät sie Jahre später als junge Frau in die Fänge des schmierigen Zuhälters Tony, der sie an ihrem freien Tag auf dem Weg in die Stadt aufgabelt. 

Die Natürlichkeit der damals in ihrer Heimat als Covergirl einen gewissen Grad an Prominenz mit sich bringenden, bildhübschen Christina Lindberg verleiht ihrer Figur in der ersten Hälfte des Films eine äußerst glaubwürdig erscheinende Unschuld und Fragilität, wodurch ihr folgendes Martyrium gleich nochmal so hart auf das Publikum wirkt. Entgegen des ersten Eindrucks, den die Protagonistin hinterlässt, handelt es sich keineswegs um eine schwache Person. Von Tony alkoholisiert, heroinabhängig und letztendlich gefügig gemacht, soll sie für ihn künftig als Prostituierte arbeiten. Der trügerische Schein ihrer passiven Haltung verbirgt die kämpferische Seite der jungen Frau, die sich gegen ihr Schicksal wehrt, aber zunächst nichts gegen ihren Zuhälter ausrichten kann. Es muss ihr erst ein Auge ausgestochen werden, um sie vermeintlich zu brechen. Als Madeleine erfährt, dass von Tony in ihrem Namen verfasste, an ihre Eltern adressierte und zutiefst verletzende Briefe diese zuerst in Gram und dann in den Freitod trieben, schmiedet und verfolgt sie einen Plan, wie sie sich an ihren Peinigern rächen kann.

Mit der Absicht, das Leid seiner Hauptfigur so abstoßend wie nur möglich darzustellen - hierzu wurden u. a. die unfreiwilligen körperlichen Interaktionen seiner Protagonistin mit Hardcore-Inserts versehen - stieß Thriller bei Frauenrechtlerinnen zunächst auf wenig Gegenliebe. Mit häufig statischen Bildkomposition und einer in vielen Szenen starr verharrenden Narration verhilft Thriller nicht nur der Umschreibung Slowburn zu neuen Dimensionen. Eine vermeintlich schludrige Umsetzung mit Konzentration auf die Schauwerte bietet einerseits den Anlass, die Gesamtheit des Dargestellten als ultimative Exploitation zu benennen. Alles, was unnötig erscheint, wird ausgelassen; auch gängige filmische Standards. Vollste Aufmerksamkeit gilt dem quälenden Schicksal Madeleines, welches Vibenius den Zuschauerinnen und Zuschauern schonungslos vor Augen führt. Die dem schmalen Budget geschuldete minimalistische Ausgestaltung tut ihr übrigens, um Thriller eine niederschlagende Aura zu verleihen. Er mag nicht direkt darauf abzielen, doch seine auf das nötigste beschränkte Vorgehensweise hinterlässt wiederholt eine unangenehme Stimmung durch den Umstand, dass seine Bilder - mögen sie weiterhin sichtbar filmisch wirken - unterbewusst darauf abzielen, eine real wirkende Authentizität zu kreieren.

Ein Mechanismus, dem sich auch Meir Zarchi mit seinem I Spit On Your Grave bedient und u. a. durch den konsequenten Verzicht auf einen Soundtrack noch mehr hervorhebt. Anders als dieser ebenfalls berühmt-berüchtigte Vertreter seiner Gattung wurde Thriller - zu einem bestimmten Grad auch durch seine jahrelange geringe Verfügbarkeit befeuert - eine Art Ikone des Rape and Revenge-Films, die letztlich durch Erwähnungen von Quentin Tarantino und der an Lindbergs Rolle angelehnten Figur der Elle Driver aus Kill Bill Vol. 1 quasi "geadelt" wurde. Die ihm lange Zeit nachgesagte große Härte resultiert mehr aus seiner hochgradig minimalistischen Form; zumal mit Madeleines Transformation zum schwarzgewandeten Racheengel eine gestalterische Eigenheit in den Vordergrund rückt, die zunächst irritierend erscheint. Den Actionszenen wird jegliche Dynamik dadurch genommen, dass sie mit Kameras gedreht wurden, welche bis zu 3000 fps zuließen (die sich Vibenius bei seinem damaligen Arbeitgeber, einer Agentur für Werbefilme etc., lieh) und in episch anmutenden Zeitlupen präsentiert werden. Blutfontänen schweben im Bild, verharren still in der Luft und Madeleines Gegenschläge werden nahezu zelebriert. Der Einsatz dieses Stilmittels erscheint zuerst so exzessiv, dass selbst ein Enzo G. Castellari geplättet abgewunken hätte.

Andererseits kann man in Madeleines Metamorphose durchaus das sehen, was - wie auch ihre Darstellerin Christina Lindberg häufiger in Interviews erzählte - über die Jahre Feministinnen in ihr sahen: Geschlechterkampf und widersetzen gegen sexuelle Ausbeutung mit überaus drastischen Mitteln. Strukturell bedient sich Vibenius in seinem Script dem Western entliehenen Formeln. Der körperlichen und seelischen Misshandlungen ausgesetzte Mensch entledigt sich mit fortlaufender Zeit seiner Opferrolle, indem er stoisch sein gesetztes Ziel Rache zu nehmen verfolgt und mit aller Härte durchsetzt. Am Ende steht das unmittelbare Duell mit dem Antagonisten, dem für das Schicksal der Hauptfigur verantwortlichen Menschen. Im Finale von Thriller werden diese Westernbezüge in aller Deutlichkeit sichtbar, wenn sich Vibenius deutlich dessen Bildsprache bedient. Zugleich ist auch Madeleines Kleidung, überwiegend schwarze Kleidung, darunter ein bis zum Boden reichender Ledermantel und ein betont lässiger Umgang mit ihrer bevorzugten Waffe, zumindest eine Reminiszenz an den Italowestern. 

Die Abrechnung mit Tony - jener unausweichliche Endkampf - ist Madeleines herbeigesehnte Katharsis wie auch ein gewalttätig gesetztes Ausrufezeichen gegen jegliche Form von sexuell konnotierter Gewalt oder Unterdrückung gegenüber Frauen. Gegen die Degradierung zur lebendigen, fleischlichen Ware, was Frauen für Tony ohne Zweifel darstellen, wird radikal vorgegangen. Die Protagonistin wächst zum Symbol eines lauten, zornigen Aktivismus heran, während Tony Stellvertreter einer ganzen Generation von Männern wird. Wobei festzustellen ist, dass Thriller keine einzige positiv dargestellte männliche Figur besitzt. Selbst ein aus subjektiver Kamera wahrgenommener Blick des Vaters auf seine Tochter birgt etwas beunruhigendes in sich, der - wenn auch nicht ausformuliert bzw. bestätigt - schlimmes ahnen lässt. Aus der stummen, geschundenen Frau wird die lärmende Stimme eines radikaleren Feminismus, bei dem Gewalt zu Gegengewalt führt. Eine womöglich gewagte These oder Interpretation; zeitgeschichtlich dennoch möglich und nicht von vornherein gänzlich auszuschließen. 

Die Auswirkungen der 68er waren noch deutlich im Bewusstsein der Menschen und könnten zumindest unterbewusst Vibenius beeinflusst haben. Für diesen selbst wahrscheinlich ein trauriger Umstand, dass seine Vision und abgelieferte Version eines vordergründig hundsgemeinen Kommerzfilms diese sicherlich nicht beabsichtigte Lesart besitzt. Unerheblich, ob man in Thriller einen verkappten, pro-feministischen Film oder einen schmutzigen und elendig langsam erzählten Rache-Thriller sehen mag: durch seine eigenwillige Umsetzung bietet der Film ein faszinierendes und interessantes Filmerlebnis, welches durch die Vita seines Schöpfers gewissermaßen einen Kreis im Bezug auf den Ursprung der Rape and Revenge-Filme schließt. Vibenius, eigenen Angaben nach einst einer der jüngsten Absolventen der schwedischen Filmschule, begann seine Karriere als Unit Manager bei den Filmen Persona und Die Stunde des Wolfs, für deren Regie sich Ingmar Bergmann verantwortlich zeigte. Dessen Die Jungfrauenquelle legte bekanntermaßen einen ersten Grundstein für diese Spielart des Exploitationfilms und diente als inhaltlich starke Inspirationsquelle für The Last House On The Left, welcher gerade mal ein Jahr alt war, als Thriller das Licht der Kinowelt erblickte. 

Mit diesen Ambitionen in die Filmwelt gestartet, gelang es dem Schweden durch seine Notlage nicht unbedingt einen der besten, aber einen der interessantesten Werke im nicht konkret greifbaren Wust der Zelluloidwerke um Rache und Vergewaltigung abzuliefern. Manchmal fühlt sich Thriller sehr nach Theorie an, die viele Merkmale eines Exploitationfilms besitzt und trotzdem weit weg von seiner Prämisse positioniert ist. Er verlangt von seinem Publikum ein Stück Arbeit ab ihm entgegen zu gehen und sich auf ihn einzulassen. Nicht jeder mag dazu gewillt sein; wer filmisch genug freigeistig ist, um einen in den letzten Jahren (auch durch Leute wie Tarantino) eine Renaissance erlebenden Film sehen möchten, welcher hierdurch einen kleinen Platz in der wenn auch etwas abseitigen Pop-Kultur einnehmen konnte, der sollte dies unbedingt tun. So einfach Thriller auch gestrickt sein mag, so undurchsichtig und faszinierend gibt er sich dem Zuschauer gegenüber, der nach dessen Ende entweder angestrengt abwinkt oder ihn gerne in seinem Geiste nachhallen lässt. Nach den albernen Streitigkeiten mit dem US-Label Synapse Films, die Vibenius des Diebstahls bezichtigt wurden, zumindest ein positives wenn auch andersartiges Vermächtnis, welches seit einigen Monaten sogar als UHD vom amerikanischen Boutique-Label Vinegar Syndrome erhältlich ist.


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Samstag, 13. Juni 2020

Midsommar

Allzu leicht könnte man Ari Asters aktuellen Film Midsommar als bloßen Mindfuck abstempeln, der wie die Bewohner der Kommune, in die es die Protagonisten verschlägt, diese wie uns Zuschauer mit ihren archaischen Traditionen und Riten auf vielen Ebenen nur verstören möchte. Doch das Kino des schnell hoch gehandelten Regie- und Genre-Wunderkinds ist weit mehr, als mit Symbolismus aufgeladene, interpretationsreiche Bilderfluten. Wie in seinem Langfilmdebüt Hereditary behandelt Aster Verlust als zentrales Thema. Ist es dort noch der Tod eines Familienmitglieds, der Anlass für die folgenden Schrecken ist, behandelt er in seinem zweiten Werk das Ende der bereits elendig lange dahinsiechenden Beziehung der Studenten Dani und Chris. Wieder ist es ein schwerer Schicksalsschlag, den die weibliche Hauptfigur zu verkraften hat; dadurch noch mehr als ohnehin mental angeschlagen, bringt sie ihre kriselnde Partnerschaft zu Chris einen Schritt weiter Richtung Abgrund. Dieser lädt seine Freundin nur aus Höflichkeit dazu ein, ihn und seine Studienfreunde Pelle, Josh und Marc auf eine Reise nach Schweden zu einer großfamilienähnlichen Kommune, in der Pelle einen Teil seines Lebens verbrachte, zu begleiten.

Entgegen Chris' Annahme, dass sie ausschlägt, sagt Dani zu. In Schweden angekommen, treffen sie rechtzeitig zu den Feierlichkeiten zur Mittsommerwende in der Kommune ein. Das auf einige Tage ausgedehnte Fest wird durch das immer bizarrere Verhalten der dortigen Bewohner und seltsam wie grausam anmutende Rituale eine harte Prüfung für die Studenten. Als einige geschockt von den dortigen Bräuchen mit dem Gedanken spielen, vorzeitig abzureißen, ahnen sie noch nicht im geringsten, wie sehr sie in den Planungen der Kommunenmitglieder für das Fest eingeplant sind. Weitgehend löst sich Aster mit seinem Script, das er seiner Aussage nach schrieb, um das Ende einer eigenen Beziehung zu verarbeiten, von gängigen Konventionen des Horrorfilms. Packte er seinen Hereditary noch häufig in Dunkelheit und düstere Bilder, wird Midsommar von hellen, leuchtenden Farben bestimmt. Lässt er seine Figuren zunächst mit der zu dieser Jahreszeit nie untergehen wollenden Sonne hadern, konfrontiert er sein Publikum gleichzeitig mit dem Umstand, dass das Grauen nicht im Dunkel lauert und man sich gedanklich nicht davor in visuelle Schattengebilde gängiger Horrorfilme retten kann. The Sun Always Shines On TV.

Aster festigt sich mit Midsommar als scharfer Beobachter, der sich gewollt gegen die hastigen Erzählstrukturen des Mainstream-Horrors stellt und sich beim Aufbau seines Szenarios und der Ausgestaltung der Charaktere Zeit lässt. Nachdem er die emotionale Spannung des Stoffs bereits Eingangs mit der Darstellung des Dani betreffenden Unglücks eindringlich zu einem ersten Höhepunkt führt, lässt er den Horror lange außen vor. Szenen, in denen er auch durch geschickte Bildkompositionen die Distanz zwischen seinen beiden Protagonisten darstellt, überwiegen und lassen den Zuschauer in die zerklüftete Partnerschaft der beiden eintauchen. Nüchtern, ohne störende Rührseligkeiten schaut Aster auf zwei Menschen, die über immer weiter auseinander reißenden Klüfte krampfig aneinander festhalten und nicht merken oder wahr haben wollen, wie man dem Partner immer mehr entgleitet. Dani steckt in ihrer selbst geschaffenen Abhängigkeit fest, die Chris in ein Pflichtbewusstsein ihr gegenüber drängt, das eine ungesunde Einseitigkeit besitzt. Er steckt in der Rolle der Stütze der Beziehung und Wächter über ihre mentale Gesundheit fest, anstelle sich komplett aufrichtig bzw. fürsorglich um sie zu kümmern. 

Die Magie der Liebe scheint lange versiegt zu sein. Dani und Chris müssen bis zur eigenen Erkenntnis, der völligen Wahrnehmung und Akzeptanz des Endes zunächst ein Martyrium durchgehen. Die fremd wirkenden Bräuche der Kommune, die ihre Freunde und sie selbst schockieren und emotional stark mitnehmen, stellen verschiedene Stufen der innerlichen Reinigung Danis und des konkreten Endes der Beziehung dar. Die in der Beziehung längst entzündete Wunde muss zunächst Schmerzen wie der Schock über die für ihre Gastgeber so normal erscheinenden Bräuche. Bis alles wieder vergeht, muss es nochmal richtig weh tun, brennen und unangenehm sein. So unbehaglich, wie sich auch die Stimmung des Films entwickelt, die Aster den Zuschauer in jeder weiteren Szene in der Kommune spüren lässt. Sein Horror ist eher das gemeinsame Erleben mit den Figuren, der kollektive Schock über die Grausamkeiten der von den Bewohnern der Kommune verübten Rituale. Die heidnischen Bräuche treffen uns christianisierte, aufgeklärten Menschen alleine schon durch ihre Fremdartigkeit. Bis auf zwei grafisch sehr explizite und äußerst wirksame Szenen verzichtet Midsommar auf den im Horror sonst meist exzessiv genutzten roten Lebenssaft. 

Neben dem Verlust eines Menschen, für den man tiefgreifende Gefühle empfand, die sich immer weiter auflösen, lässt uns der Regisseur auch die Absenz von ursprünglichem, urwüchsigem Denken und Fühlen in unser Bewusstsein treten. Aster spielt mit unserer Christianisierung und deren Verdrängung alter, monotheistischer Glaubenskonstrukte. Was barbarisch für den einen scheint, empfindet ein anderer in seinem Lebensbewusst als vollkommen üblich. Was normal ist, liegt im Auge des Betrachters. Fast schon bedauerlich, dass Midsommar bei seiner Vielschichtigkeit mitunter in gängige Horrorschemata verfällt. Dies fängt bei schwachen Nebenfiguren wie Marc an, der der übliche nervige, notgeile wie dezent tumbe Auffällige ist, der zumindest mir schnell auf die Nerven ging, und hört bei zwar nur angedeuteten und nie vollständig ausformulierten Szenen auf. Sie stehen im Kontrast zum komplexen Rest der Geschichte; zu simpel und vorhersehbar formt sich ein Verdacht im Kopf des Zuschauers, der sich später bewahrheitet. Es raubt ihm seine unvergleichliche Charakteristik und oppositionelle Haltung gegenüber normaler Genreware. Am ehesten kommt einem bei Midsommar als grober Vergleich The Wicker Man in den Sinn.

Scheinbar der Einzigartigkeit seines Stoffs voll und ganz bewusst, bewahrt Aster die Einzigartigkeit des Films. Wie die weiblichen Bewohner beim Tanz auf dem Höhepunkt des Fests, strauchelt er in wenigen Momenten um in seiner Gesamtheit im Glanz seiner gleißenden Schönheit zu stehen. Eigentlich ködert Aster das Publikum mit der altbekannten und doch die Neugier anheizenden Faszination des Fremdartigen, um dies wie die Figuren des Films mit der geschaffenen, parallel zu unserer konservativ erscheinenden Gesellschaft existierenden Welt zu ängstigen. Die stetig anhaltende, unangenehme Atmosphäre und Asters feines Gespür für präzise wie nüchtern erzählte Dramen, die eins werden mit dem naturalistischen Horror des Films machen Midsommar zu einem feinen Genre-Erlebnis, dem man die plumpen Momente verzeiht. Die weitgehend durchweg positiven Stimmen nach seinem Kinostart kann ich voll und ganz nachvollziehen, selbst wenn ich mich nicht komplett vom Begeisterungssturm mitreißen lasse. Stehende Ovationen und lang anhaltenden Applaus erhält er aber auch von mir. Ist er doch allein schon mit seiner Laufzeit von knapp zweieinhalb (Kino-Fassung) bzw. drei (Director's Cut) Stunden Laufzeit und dem sich bewussten Zeit nehmen für sein Sujet, seine Figuren und seinen Absichten dem Zuschauer gegenüber ein schöner Gegenentwurf zum in Laufzeitschablonen gepressten Genre-Standard. 
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Sonntag, 25. August 2019

Lords of Chaos

Mit den Bands Motörhead, Grave Digger und Sodom hat alles angefangen. Seitdem befinde ich mich seit gut zwanzig Jahren - trotz Unterbrechungen und damit verbundenen, auf andere Genres bzw. Subkulturen verschobenen Interessen - in den Klauen des Heavy Metal. Im letzten Jahr brachte mich die schwedische Okkult Rock-Band Ghost mit ihrem aktuellen Album zurück zu den musikalischen Wurzeln und während ich zu Beginn meiner "Metaller-Karriere" bei extremeren Spielarten wie Death- oder Black Metal wegen der stumpfer Brutalität der Musik wenig begeistert meist schnell abwinkte, erwachte über die Jahre zumindest für Black Metal leichtes Interesse. Trotz weniger Berührungspunkte mit diesem Subgenre stößt man, wenn man sich intensiver mit Heavy Metal auseinandersetzt, auf einen der größten Skandale, der es über die Szenemauern hinaus schaffte, für großes Medienecho sorgte und Black Metal ins Bewusstsein vieler Menschen setzte:
die durch Brandstiftung entstandenen Kirchenbrände im Norwegen der frühen 90er und den Mord von Kristian "Varg" Vikernes an seinem Bandkollegen Øystein "Euronymus" Aarseth.

Nachdem die musikalisch spannende, chaotische und gewalttätige erste Welle der noch jungen Black Metal-Szene in Skandinavien abebbte, erschien im Jahr 1998 das Sachbuch Lords of Chaos. Die verschiedenen Vorkommnisse der vergangenen Jahre wurden darin aufgearbeitet und ließ die damaligen, mit den im Buch beschriebenen Vorkommnissen verknüpften Szene-Köpfe der damaligen Zeit, darunter auch Vikernes, zu Wort kommen. Das Buch mit den darin abgedruckten, ungefilterten wie unkommentierten Gesprächen wurde in und außerhalb der Szene kontrovers aufgenommen. Die Verstrickungen von Autor Michael Moynihan in die rechtsextreme Szene heizten die Diskussionen um das Werk zusätzlich an. Viele Jahre nach seiner Veröffentlichung nahm sich Jonas Åkerlund dem Buch an und arbeitete als ausführender Produzent, Autor und Regisseur an einer Verfilmung dessen. In Bezugs auf das Thema erweist sich der Schwede, welcher sich als Videoclip-Regisseur für Madonna, Sigur Rós, The Prodigy oder Rammstein einen Namen machte, als gute Wahl. Von 1983 bis 1984 saß er unter dem Pseudonym Vans McBurger hinter dem Schlagzeug der schwedischen Metal-Band Bathory, welche mit ihrem Sound u. a. auch den Black Metal beeinflusste und deren bekanntes Goat-Motiv des Debütalbums häufiger auf den Shirts der Figuren des Films zu sehen ist.

Dieser entpuppt sich als zweischneidige Angelegenheit. Lords of Chaos schildert die Geschichte aus der Sicht von Øystein Aarseth, der als Erzähler fungiert und mit Voice Overs die Geschichte vorantreibt und kommentiert. Euronymus ist der Verbindungspunkt mit dem Zuschauer, der diesen aktiv anspricht, während der Film über weite Strecken die Handlung so nüchtern anpackt, dass eine distanzierte Kühle entsteht. Ansatzweise erinnert man sich in den Schlüsselmomenten rund um Aarseth und den Anfangstagen seiner Band Mayhem sowie dem kriminellen Treibens seines "Inner Circle" nach der Gründung des Plattenladens Helvete in Oslo bei deren Darstellung an die unmenschlich kalte Stimmung einiger Black Metal-Songs erinnert. Als Kenner der Materie besitzen manche Szenen trotz des Wissens, was folgt, eine unangenehme Wirkung. Der Suizid des ersten, schwer depressiven Sängers Per Yngve "Dead" Ohlin und der von Bård "Faust" Eithun begangene Mord an einem Homosexuellen in Lillehammer sind durch Åkerlunds stiller Beobachter-Perspektive schwer im Magen liegende Szenen die nachhallen.

Leider wird diese Sicht auf die vergangenen Zeiten von Momenten durchbrochen, in denen die Geschichte und die darin vorkommenden Menschen für ein hippes, PC-getreues Publikum und deren Sensationslust vorgeführt wird. Metal-Fan als solche und Black Metal-Anhänger insbesondere erscheinen in ihrer Andersartigkeit ein gefundenes Fressen für Szenen, die plump provokativ wirken sollen und damit höchstens in ihrer Blase durch gentrifizierte Trendviertel schwebendes Hipstervolk oder Senioren jenseits der 80 schockieren können. Nicht von ungefähr erinnert das an Reportagen der Vice. Diese hat Lords of Chaos mit ihrer Firma Vice Films mitproduziert und hat den Black Metal schon zu früheren Zeiten für sich entdeckt. True Norwegian Black Metal - ein Begriff der auch im Film selbst häufiger fällt - ist eine von der Vice produzierte Kurz-Dokumentations-Serie über die extreme Spielart des Heavy Metals. Wie das zugrunde liegende, verfilmte Buch wurde diese alles andere als gut aufgenommen und den Machern absichtliche Falschinformation vorgeworfen; Hauptsache die Zielgruppe erhält neues Futter über die "abartigen" Andersartigkeit außerhalb der eigenen Blase.

Nötig hat Lords of Chaos dieses Gehabe eigentlich nicht. Åkerlunds Film schafft die Balance zwischen kühler Studie und True Crime-Drama und ermöglicht dem Zuschauer einen Einblick in die Anfangstage einer Szene und Musikrichtung, bei der ich selbst ständig zwischen Faszination und Abscheu schwanke. Wie das Buch enthalten sich Åkerlund und sein Co-Autor Dennis Magnusson jeglichen Urteils über die Geschehnisse. Sie lassen Euronymus sprechen und zeigen an seiner Person das ganze Paradoxon des Black Metals. In keiner anderen Spielart des Metals ist man um angebliche Authentizität bemüht und schwankt auf dem schmalen Grat zwischen ideologischer Extreme und purem Posertum. Der schwelende Konflikt zwischen Aarseth und Vikernes, begonnen bei Kleinigkeiten wie dem bemängelten Scorpions-Patch an der Jacke Vikernes' beim ersten, kurzen Aufeinandertreffen der beiden entwickelt sich zu einer hochexplosiven Mischung aus auseinander triftenden Ideologien, Eifersucht und der "existenziellen" Frage, was eigentlich true ist. Die Konzentration auf Euronymus lässt diesen zu einer tragischen Figur werden, der den Zwängen der Szene hätte entwachsen können.

Der steifen Sicht des Films auf ihren Protagonisten nach könnte man Åkerlund eine einseitige Konzentration vorwerfen. Vikernes bleibt in seiner Darstellung gefühlt eine Randfigur, obwohl er der zweite Protagonist ist. Im Vergleich mit dem Buch ein sorgsam eingeschlagener Weg und Kontrast. Das der Norweger damals eine eigentlich leicht manipulierbare wie gleichzeitig einnehmende Persönlichkeit war, die sich über die Jahre (bis in die Gegenwart) gefährlich radikalisierte, wird schnell klar. Die im jugendlichen Rebellentum anhaltende Ablehnung gegenüber der Institution Kirche, weil sie den Glauben der norwegischen bzw. skandinavischen Vorfahren vertrieb und die Vermengung mit nationalistischem Denken eskalierte in den auch im Film gezeigten Kirchenbrandstiftungen; eine Konsequenz der ersten, frühen Radikalisierung Vikernes'. Dieses leere Gefäß, welches er in Andeutungen vor dem ersten Treffen mit Aarseth gewesen schien, war gleichzeitig gerne aufnahmebereit für die satanistische, lebensverneinende Welt des Black Metal. Noch heute ist die Szene Tummelplatz vieler zweifelhafter Gestalten und Nährboden für nationalsozialistische Auswüchse.

Die in Lords of Chaos beschriebene Zeit in Norwegen (und den angrenzenden Nachbarländern) quoll über vor hungrigen und jungen Menschen, die mit dieser neuen Extremen in der Subkultur über die nächsten Jahre in der Szene für Aufsehen und Kontroversen sorgen sollten. Gleichzeitig war ihr jugendliches Alter ein offenes Tor für extreme, radikale Gedankengänge. Würde die überwiegende Neutralität des Erzählstils nicht manchmal Platz machen für die sensationshaschende Zurschaustellung einer Subkultur, aus der Åkerlund selbst entstammt, wäre der Film im Gesamtton eine Nuance eindringlicher. Ebenso verzichtet er auf einen zu befürchtenden nostalgisierten Blick in die Vergangenheit. Das wird dem Zuschauer überlassen, der - sofern Fan - beim Anblick von Platten und Postern solcher Bands wie Metal Church, Motörhead oder Mercyful Fate sich ein leichtes Lächeln wegen des gebotenen Anblicks nicht verkneifen kann. Bei mir selbst war die kurz im Bild zu sehende "In The Sign Of Evil"-LP von Sodom - die Gelsenkirchener waren mit ihrem Spiel und dem rumpeligen Sound dieser und nachfolgenden Veröffentlichungen ebenfalls ein großer Einfluss für die frühen Black Metal-Bands - ein kurzer Grund spontanen feierns. Bei aller Kritik an der unterschiedlichen Tonalität kann man auch Lords of Chaos als spannenden und interessanten Blick in eine Subkultur ewiger Extreme ansehen und feiern dessen unaufdringliche Fotografie zeigt, dass in deren Schwärze eine faszinierende Schönheit innewohnt, deren Wirken auf einen selbst gefangen nimmt und begeistern kann.
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Sonntag, 22. April 2018

Die Jagd

Wenn Thomas Vinterberg etwas kann, dann ist es Manipulation. Wie in seinem Beitrag zum seinerseits von ihm mit unterzeichneten Dogma 95-Manifest Das Fest versteht es der dänische Regisseur auch in seinem  Film Die Jagd den Zuschauer mit geschickten Winkelzügen in eine emotionale Richtung zu drängen und von dort aus seine Empfindungen zu lenken. In ersterem gelingt es ihm durch die Kombination eines heiklen Themas (Kindesmissbrauch) und die um Authentizität bemühten Regeln des Dogma-Manifestes. Damals, bei meiner ersten und bisher einzigen Sichtung von Das Fest ging dies voll auf. Der Film packte mich mit voller Wucht, ließ mich durch die minimalistische Filmtechnik in das Geschehen eintauchen und emotional eine ähnliche Wut auf den Patriarchen der Familie fühlen wie die von ihm missbrauchten, eigenen Kinder. Jahre später kommt der dänische Regisseur wieder auf dieses Thema zurück, welches über die Jahre nichts von seiner Brisanz eingebüßt hat.

In Die Jagd macht Vinterberg den Zuschauer zu einem der wenigen Kenner der ganzen Wahrheit, die das entstehende Drama des Films verhindern könnte. Lucas, ehemaliger Lehrer und jetzt Kindergärtner in einem kleinen Dorf, wird von Klara des sexuellen Missbrauchs bezichtigt. Was nur Klara, die Tochter des besten Freundes von Lucas, dieser selbst und der Zuschauer wissen: es ist ein Missverständnis. Das durch die Streitigkeiten ihrer Eltern etwas verloren und allein gelassen wirkende Mädchen spricht es aus einer Enttäuschung darüber hinaus aus, dass Lucas ihre kindliche Schwärmerei zurückgewiesen hat. Grete, die Leiterin des Kindergartens, sieht sich gezwungen, Schritte einzuleiten. Sie schaltet die Polizei ein, entlässt Lucas und unterrichtet die Eltern vom im Raum stehenden Verdacht. Der sich nach schwereren Zeiten wieder berappelnde Lucas, dessen noch bei der Ex-Frau lebende Sohn zu ihm ziehen darf und eine kleine Romanze mit einer Küchenkraft des Kindergartens beginnt, sieht sich bald einem wütenden Mob von Dorfbewohnern entgegen, die ihn aus der Gemeinschaft ausgrenzen und ihn ihre Wut und Verachtung gegenüber dem vermeintlichen Kinderschänder spüren lassen.

Vinterberg zieht gezielt die Sympathien des Zuschauers auf den sensiblen und stillen Mann, der mit den Beschuldigungen konfrontiert auf eine seelische Ohnmacht zusteuert. Er macht den von Mads Mikkelsen großartig nuanciert dargestellten Mann zu einem symbolistischen Jedermann, in den man sich hineinversetzen kann und mit seinem Auftreten sich von den anderen Männern des Dorfes, obwohl er ihrem Bund angehört und deren typisch männlichen Ritualen und Verhaltensweisen beiwohnt bzw. aufnimmt, abhebt. Ein modern geprägter Mann, aufgeklärt, rational und trotzdem emotional. Zurückhaltend, fast phlegmatisch lässt der Regisseur den Zuschauer an einem Treffen der Männer des Dorfes und Lucas' Alltag teilhaben, ehe er sich auf den dramatischen Teil seiner Geschichte konzentriert. Da liegen bereits alle Sympathien beim Protagonisten, um aus dem weiteren Verlauf der Handlung eine maximale emotionale Wirkung beim Zuschauer zu erzielen. Hände werden vors Gesicht geschlagen, Figuren wüst beschimpft, Wut entwickelt, wenn die haltlosen Ungerechtigkeiten über Lucas einprasseln. Längst wurde die Unschuld beteuert, sogar die Anschuldigungen zurückgenommen, doch im Moment der gesprochenen Wahrheit wird dies als Nebenwirkung, eine Art Nebenerscheinung des Missbrauchs abgetan.

Die Jagd schildert mit seinem nüchternen Stil, wie eine Lüge, Verdacht, falsche Schlussfolgerungen und Gerüchte wachsen und sich verwurzeln können. Wie Leben und aufgebaute Existenzen beinahe vernichtet werden. Die Macht des Wortes, das sich manifestiert und als unwiderlegbare Wahrheit in den Köpfen der Menschen festsaugt. Vinterberg strickt daraus ein eindringliches Drama und kühle Sozialstudie. Das auf die emotionale Achillesferse des Zuschauers zielende Werk, welches es auch mühelos zu treffen vermag, lenkt damit von fragwürdigen oder irritierenden Punkten der Geschichte ab. Einerseits watscht Vinterberg naive Menschen ab, die in Kindern vollkommen unschuldige Geschöpfe sehen, die nicht dazu in der Lage sind, zu lügen und durch ihre Gutgläubigkeit solche Situationen, wie sie in Die Jagd entstehen, heraufbeschwören. Die dem vermeintlichen Opfer, welches aus einer Laune heraus log, sogar mit suggestiven Methoden beeinflussen um den nicht stattgefundenen Missbrauch zur einzigen (falschen) Wahrheit werden zu lassen. Andererseits weckt dies gleichzeitig eine Ungläubigkeit, das es wirklich solche Menschen überhaupt geben kann/soll. Bevor der Gedanke weiter wachsen kann, lullt Vinterberg nahezu mit der nächsten Attacke auf die offen stehenden Empathieschleusen des Zuschauers ein.

Das fast schlimme, aber auch großartige am Film: es funktioniert, bleibt nachvollziehbar und fühlt sich an, als könnte all das gezeigte wirklich schon passiert sein. Ist Die Jagd allerdings, wie ihm auch vorgeworfen wurde, ein reaktionärer Film? Nein. Viel mehr zielt Vinterberg darauf ab, das Schneeballprinzip falscher Worte und Gerüchte anhand des unbequemen Themas Kindesmissbrauchs aufzuzeigen. Ohne das Thema abzuwerten, baut der Däne in seinem Film einen eigenwillig erscheinenden Kosmos dieser kleinen Ortschaft auf, sinnbildlich für die Gesellschaft, die schnell auf einen vermeintlichen Täter eindrischt ohne auch wirklich die Wahrheit zu kennen. On- wie Offline, auch wenn ersteres komplett vom Film komlett ausgeblendet wird. Selbst nach dem die Polizei alle Anschuldigungen ausräumen konnte, er frei kommt und der Verdacht unbegründet erscheint, bleibt der Mann als Perverser gebrandmarkt. Einmal so, immer so. Gleich, ob dies wirklich die Wahrheit ist. Das alle Frauen des Films negativ dargestellt werden, empfinde ich als unglücklich dargestellt. Wobei ich zugeben muss, dass die Szenen im Männerbund, auf der Jagd nach Wild und auch den Initiationsritus hin zum erwachsen werden mit der Übergabe eines Gewehrs an Lucas Sohn gegen Ende des Films ziemlich unpassend sind. Das ist dann wirklich ewiggestrig; eben reaktionär.

Gegenüber der erstarkenden Frau in der Gesellschaft feindselig und an alten patriarchalischen Strukturen festhaltend ist die Die Jagd weniger. Die Anschuldigungen gegenüber Die Jagd sind nachvollziehbar, entkräften sich in meinen Augen damit, dass Vinterberg sich zu stark auf das innere Gefüge der Dorfgemeinschaft und die auf die Probe gestellte Freundschaft zwischen Lucas und Theo, Klaras Vater, konzentriert und diese etwaigen problematischen Standpunkte nicht beachtete. Vielleicht auch nicht beachten wollte. Als Sozialstudie bleibt es ein unschlagbar guter Film, obwohl das Ende mit dem augenscheinlich in die Dorfgemeinschaft integrierten und rehabilitierten Lucas komisch und unglaubwürdig erscheint. Mit der letzten Einstellung kann der Regisseur und Autor diesen Eindruck entkräften, obwohl die davor geschilderte Story in Verbindung mit der Rehabilitierung Lucas' plötzlich fast lächerlich anmutet. Hunderprozentig gelingt es Vinterberg nicht, dieses fast-hollywood'sche Happy End zu sprengen. Irgendwann stellt man sich die Frage, ob der Regisseur beim Verlauf der Handlung nicht doch nur Klischees verwendet hat, wenn der Verlauf der Hetzjagd auf Lucas so nachvollziehbar erscheint, weil dies eben auch vorhersehbar ist. Dafür hat Vinterberg ein gutes Händchen dafür, den Schneeballeffekt seiner Geschichte mitreißend zu erzählen und daraus eine poitierte Gesellschaftsstudie zu stricken, was Die Jagd zu einem sehr guten Film macht. Selbst wenn er mit der Darstellung eine reaktionäre Haltung vertreten sollte: mit der emotionalen Lenkung des Publikum kann er ebenfalls sehr gut davon wegführen.
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Freitag, 30. März 2018

Atomic Blonde

Eigentlich ist Atomic Blonde in seiner Konzeption en vogue: es ist ein technisch gekonnt umgesetzter Film mit einigen guten Szenen, mitsamt einfallsreicher Fotografie. Seine Geschichte spielt nicht nur in den ausgehenden 80ern zur Zeit der bevorstehenden Wende in Deutschland, kurz vor dem Zusammenfall des eisernen Vorhangs, er bedient sich freudig bei der damals vorherrschenden Ästhetik. Es ist nicht einer dieser fancy retro movies, der vollends rückwärts gewandt mit verklärt nostalgischer Vita ganz vorgibt, aus einem anderen Jahrzehnt zu stammen. Atomic Blonde will wild, chaotisch, aufregend sein, wie die Zeit in der geteilten Stadt Berlin, in der seine Handlung spielt. Komplett erreicht er das leider nur bei seinem Soundtrack, der ungeniert in allen erdenklichen Stilrichtungen des Jahrzehnts wildert und so unterschiedliche Interpreten wie New Order, Nena, Peter Schilling, David Bowie, A Flock Of Seagulls, The Clash oder Siouxsee And The Banshees vereint.

Auf erzählerischer Ebene braucht David Leitchs Film wie einer der vielen zugezogenen Bewohner der Bundeshauptstadt eine ganze Weile um komplett anzukommen. Seine spröde Atmosphäre, die auch ästhetisch unterkühlt wirkt, die auch durch Wechsel zu wärmeren Farbpaletten in einigen Szenen nicht komplett verschwinden möchte, wahrt eine Distanz zum Zuschauer. Regisseur Leitch erklärte in Interviews zum Start des Films, dass er das vorherrschende Gefühl im damals noch geteilten Berlin, die dortige Stimmung, sein Aussehen, adäquat umsetzen wollte. Den Drehort Budapest haben die Set Designer mit beeindruckender Hingabe in die Stadt der deutschen Städte verwandelt, einigen historischen Unkorrektheiten zum Trotz, deren Bemängelungen mir vor einiger Zeit bei Twitter über den Weg liefen. Einem auf die Action und die Stimmung konzentrierten Film sollte man einige Unkorrektheiten verzeihen können; bei diesem Genre auf sowas zu achten und nörgelnd den Finger zu erheben ist meiner Meinung nach ebenso paradox (und unnötig) wie das ständige Verlangen einiger Menschen nach realistischem oder komplett logischem Handlungsverlauf in phantastischen Filmen.

Mehr zu bemängeln ist das Drehbuch, dass die Spionageposse um eine britische Agentin, die als Russin getarnt vom Geheimdienst ihrer Majestät nach Berlin geschickt wird, um einen Doppelagenten und eine Liste mit brisanten Informationen, die zuletzt im Besitz des ermordeten Agentenkollegen James Gasciogne war, ausfindig zu machen, höchst kompliziert erzählen möchte um den Zuschauer mit ständigen Wendungen zu überraschen. Anstatt eine Stimmung des Misstrauens zu erzeugen, stärkt er damit die Distanz des Films zum Zuschauer. In der Stadt ansässige Russen, ein Überläufer der Stasi mit fotografischem Gedächtnis der bei der Hatz auf die Liste zu einer wichtigen Person und Jagdobjekt wird, ein britischer Kollege mit zweifelhafter Einstellung bezüglich seiner Arbeitsmoral und dann auch irgendwie noch mitmischende französische Agenten bringen die Story zum überquellen. Auf visueller Ebene funktioniert Atomic Blonde und scheint sich wahrscheinlich gut an der Graphic Novel-Vorlage zu orientieren. Mit der verknoteten Narration hangelt man sich als Zuschauer von Szene zu Szene, erfreut sich an den hübschen Bildern und wartet, ja hofft, auf den einen Moment, der das Ruder herumreißen könnte.

Es dauert, aber: er kommt. Eine gut zehnminütige, ohne jeglichen Schnitt auskommende Sequenz, in der sich Hauptdarstellerin Charlize Theron mit dem angeschossenen Überläufer im Schlepptau durch ein ganzes Treppenhaus und eine Wohnung prügelt und schießt, ist eine der besten Actionszenen der letzten Jahre. Die fließende Steadycam, die immer nahe an der Protagonisten und dem Geschehen ist, bringt auch eine Annäherung zum Zuschauer selbst, der von der perfekten, knochentrockenen und -harten Choreographie von Beginn an mitgerissen wird. Danach funktioniert alles etwas leichter, der imaginäre Stock im Hintern des Films scheint mit Schwung raus gezogen worden zu sein. Der Funke ist übergesprungen; für einen komplett positiven Gesamteindruck zu spät. Unterkühlt kann man bis dahin nicht nur Therons Spiel nennen, die zeitgleich nicht nur den mit bösen Absichten durch Berlin stapfenden Spionagekollegen aus Russland, sondern dem ganzen Werk an sich in den Hintern getreten hat.

Wenigstens das ist ein weiterer Punkt, den man bei Atomic Blonde positiv verbuchen kann: Er stellt eine Frau in Mittelpunkt, eine verdammt starke und wortwörtlich schlagkräftige Heldin, die weit über den restlichen, männlichen Figuren positioniert ist. Der Film vertritt einen Kick Ass-Feminismus, der nicht einfach eine weibliche Protagonistin präsentiert, um damit genügend Frauen anzusprechen die mit Theron als Agentin mitfiebern können. Nebenbei, vielleicht unbeabsichtigt, vielleicht hinnehmend wenig vertieft und ausgearbeitet, zeigt Atomic Blonde dem mit vorwiegend männlichen Protagonisten arbeitenden Actionkino einen Mittelfinger und zeigt, dass auch coole Frauen durchaus ihren Mann stehen und einen Film tragen können. Immer nur Statham, Diesel und die restlichen, allseits bekannten (und langweiligen) Gesichter sind eintönig und das alle Actionhelden meistens mit einer großen Knarre als Phallussymbol unterstreichen, dass der Mann das sagen im Actiongenre hat, ist schrecklich überholt. Das wiederum macht Atomic Blonde richtig, auch wenn er formell auf erzählerischer Ebene eine Spur zu dick aufträgt und die Fäden seiner Geschichte schnell zu fest zurrt und verknotet. Aber man kann eben nicht alles haben.
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