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Donnerstag, 23. Mai 2024

Die Knochenfrau

Inwieweit ist es egoistisch, wenn man der Verwirklichung eigener Wünsche nachgeht und den Erwartungen von außen an der eigenen Personen nicht entsprechen will? Inwieweit soll man sich der Familie oder der Gesellschaft unterordnen, nur weile diese an veralteten Traditionen und Rollenbildern festhalten? Muss man sich erst so lange selbst verleugnen, bis man an einen Punkt gelangt, an dem es schwer ist, einen Strich zu ziehen und einen Neuanfang zu wagen? Fragen, die einem nach Betrachtung von Michelle Garza Cerveras Regiedebüt Die Knochenfrau in den Kopf kommen und die Regisseurin innerhalb ihres Films aufgreift. Ihre Protagonistin Valeria scheint zunächst ein zufriedenes Leben zu führen. Alles scheint zu passen, nur eine Kleinigkeit scheint noch zu fehlen um das alles abzurunden: ein Kind. Als nach mehreren Versuchen ein Schwangerschaftstest positiv ausfällt, beginnt für die junge Frau ein neuer Abschnitt in ihrem Leben und damit ein Umbruch. Die geliebte Schreinerei-Werkstatt in der Wohnung muss in ein Kinderzimmer umgebaut werden, körperliche Nähe wird durch ihren Partner Raúl verweigert, um angeblich dem Ungeborenen nicht zu schaden und die Familie weiß natürlich am Besten, wie sie sich nun zu verhalten hat. Valeria wird zunehmend fremdbestimmt. Damit nicht genug, wird sie von einer knochigen Gestalt heimgesucht, die zur Gefahr für Sie und das Kind wird.

Das die junge Frau mal ganz anders war, wie man sie zunächst kennenlernt, erzählen Rückblenden. Früher war sie in der alternativen und queeren Szene unterwegs, träumte mit der damaligen Freundin Octavia vom Ausbruch aus der einschränkenden Heimat. Doch die wilde, junge Frau entscheidet sich dagegen, will den Erwartungen ihrer Familie gerecht werden; die beiden verlieren sich aus den Augen. Durch Zufall treffen sich die beiden wieder, was Valeria an die damalige Zeit und ihre Wünsche und Träume erinnert. Ihr wird bewusst, dass das in ihr heranwachsende Kind nicht das ist, was sie sich wünscht. Sie sucht sich Hilfe bei einer Tante, die über altes Wissen verfügt, um mit archaischen Ritualen das Baby loszuwerden. An diesem Punkt ist Die Knochenfrau, die Huesera, längst zu einem Drama geworden. Der Horror spielt eine untergeordnete Rolle. Mehr schreit uns Cevera in leisen Tönen ihren Unmut über das Bild der Frau und dem von queeren Menschen in Mittelamerika hinaus. Wenn überhaupt, gehen Veränderungen langsam von statten. Alte Geschlechterrollen bleiben bestehen. Der Ausweg ist beschwerlich oder wie im dargestellten Leidensweg Valerias kaum möglich. Das Cevera in ihrer Sprache recht direkt ist, wenige Interpretationen bietet, zeugt mit Blick auf ihr Herkunftsland von Mut. Mit Blick auf den finalen Twist eine schwierige, weil offensichtlich, Entscheidung. Die Titelgebende Schreckgestalt entpuppt sich als Sinnbild. Dieses kann wiederum ist in seiner Darstellung, die zwischen Folk und Body Horror liegt, noch für genügend Schauer beim Publikum sorgen. Nicht zuletzt, da die Auflösung das ganze Ausmaß der Verzweiflung Valerias offenlegt. Die hier von Die Knochenfrau zur Schau getragenen Simplizität kommt Ceveras Absicht zu Gute. Der Film bleibt damit für das Publikum jederzeit zugänglich, die Wirkung der Geschichte gestärkt. Die Mexikanerin bietet mit ihrem Erstling ein beeindruckend selbstsicheres und sensibles Horrordrama über leider immer noch nicht überall so selbstverständliche, weibliche Eigenbestimmung.

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Dienstag, 14. Mai 2024

November

In was für einer traurig grauen Welt leben all' jene Menschen, die fernab jeglicher Fantasie existieren und Märchen als Kinderkram abtun? Gefangen im urbanen, technisierten und automatisierten Alltag, rationell denkend, scheint dieser Art Leben wie Scheuklappen zu funktionieren, die den Blick von allem, was von der eng gesteckten Lebensnorm abweicht, abschirmt. Die Zerstreuung und Unterhaltung unterliegt gleichbleibender Muster, ist ebenso genormt wie abhängig von Algorithmen, die gemäß ihrer Syntax aus dem Verhalten der Nutzer lernen und ewig gleiches vorsetzen. Wer es schafft, über die Ränder und vorgerechnete, lieblos zusammengesetzt Unterhaltung hinweg zu schauen, der entdeckt jene magische Welten, wie sie Rainer Sarnet mit November erschuf. Wer gänzlich unvorbereitet in diesen faszinierenden, aus Versatzstücken estnischer Folklore erschaffenen Kosmos steigt, könnte sich hin und wieder darin verloren vorkommen. Für die Figuren dieser Erzählung mögen das vom Publikum erlebte Übernatürliche, die Absurditäten und Fantastereien völlig normal erscheinen. Kratt genannte, aus Werkzeugen zusammengebaute, lebendige Wesen die ständig eine Arbeit brauchen, Tote die einmal im Jahr zu ihren Familien zurückkehren, die Pest in Gestalt einer Ziege, welche sich mit einer über den Kopf gestülpten Unterhose austricksen lässt. Man stolpert einfach so in dieses Universum hinein und wandelt mit Fragen im Kopf durch dieses Erwachsenenmärchen, das nichts erklärt und damit vieles richtig macht aber auch überfordern kann.

Einen roten Faden in der Geschichte gibt es schon, der von Liina und ihrer unerfüllten Liebe zu Hans, der hingegen Luise, die Tochter eines deutschen Barons, begehrt, welche er nach einer Messe kennenlernt. Damit der Angebetete sein Herz an sie verlieren soll, sucht Liina den Rat der Dorfhexe, die ihr die Tötung Luises empfiehlt. Hans wiederum versucht mit Hilfe des Teufels selbst, der somnambulen Luise nahe zu kommen. Doch ist sie für Sarnet mehr ein konventioneller Zugang für das Publikum seines sich zwischen Drama, Märchen und Folk Horror bewegenden Werks. Irgendeine Geschichte, die zur Orientierung dient, benötigen internationale Kinobesucher oder im Heinkino befindliche Cinephile dann schon. Den wenigsten dürfte die estnische Folklore vertraut sein, dass man sich problemlos durch die auf Andrus Kivirähks Roman "Der Scheunenvogel" basierende Geschichte bewegen kann. Einziger Knackpunkt ist, dass darin so viel los ist und passiert, dass die grundlegende Erzählung aus der Augen verloren und zum Beiwerk wird. Dafür bezaubert November mit seiner Widersprüchlichkeit zwischen geerdetem, naturalistischem Look und traumhaft surrealen Momenten. Man bedient sich bei Motiven der schwarzen Romantik, altertümlichen Mythen, packt derben Humor dazu und bettet alles in eine großartig umgesetzte Schwarzweiß-Fotografie. Das nicht jeder etwas mit so einem wilden wie poetischen Film-Ritt kann, liegt auf der Hand. Um Konventionen ist Sarnet nicht bemüht. Lieber will er uns und alle an dieser märchenhaften Filmwelt interessierten Menschen dazu einladen, sich für gut zwei Stunden von der strukturierten, berechenbaren Realität zu verabschieden. Wer ein Faible für solcherlei einzigartige Filmerlebnisse hat, soll jegliche Skepsis oder Scheu ablegen. Denn: zu träumen wecke sich, wer kann! 

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Freitag, 19. April 2024

Dream Scenario

Wer, angestachelt durch die Werke, in denen Nicolas Cage in den letzten Jahren auftauchte, eine weitere ungezügelte Höchstleistung Nouveau Shamanic erwartet, wird von Dream Scenario enttäuscht. Sein an einer Universität lehrender Evolutionsbiologe Paul Matthews ist ein unauffälliger Mann, ein Average Type durch und durch. Zurückhaltend, immer etwas aus der Gegenwart gefallen wirkend, aber nach Aufmerksamkeit und Anerkennung - zumindest für seine Arbeit - suchend. Wie zuletzt in Pig spielt Cage sehr zurückhaltend, ist wie Paul ein Mensch voll leiser Töne, der dem lauten Alltags-Shizzle nicht gewachsen scheint. Oder einfach unbeachtet in diesem untergeht. Dies ändert sich, als er in den Träumen anderer Menschen erscheint und darin untätig dabei zuschaut, wie diesen schlimmes widerfährt. Paul wird zum Medienphänomen, erhält seine 15 minutes of fame, wird von Trent und seiner Marketing-Firma bezirzt und sieht darin die Chance, den lang gehegten Traum, ein Buch über die Schwarmintelligenz von Ameisen zu schreiben, umzusetzen. Der Hype um seine Person schlägt schlagartig um, als er in den Träumen der Menschen zum personifizierten Nachtmahr wird und man deswegen beginnt, sich von ihm zu distanzieren.

Kristoffer Borgli, Regisseur der empfehlenswerten, bösartigen Satire Sick of Myself, besticht in seinem Hollywood-Debüt schon mit der Besetzung der männlichen Hauptrolle. Er setzt seine Hauptfigur der schnelllebigen Welt der sozialen Medien aus, lässt diese zum Meme werden, bevor der schnelle Hype in Ablehnung umschwenkt und lässt diese von einem Meme aus Fleisch und Blut verkörpern. Der auch für das Script verantwortliche Norweger wirft seinen Protagonisten und das Publikum unvermittelt in die immer grotesker werdende Szenerie, die zunächst so wunderlich wie amüsant ist. Das er seinen Blick auf die Träume einzelner richtet und ihnen vermeintlich Aufmerksamkeit schenkt, ist eine smarte Finte, mit denen er sicherlich viele an der Nase herum führt. Die mit Horror-Zitaten gespickte Traumgebilde irritieren; uns vor der Leinwand wie die Figuren - allen voran Paul. Das nie beantwortet wird, wieso das alles passiert: pure Absicht von Borgli. Auch in der Realität wird selten nach Ursprüngen von Hypes, Memes etc. gefragt. Sie kommen und gehen. Im Falle von Paul äußerst unschön. Der ratlose Wissenschaftler, vom Trubel um seine Person sichtlich überwältigt und teils überfordert, weiß nicht wie ihm geschieht, als die Albträume beginnen, er darin aggressiv zu Werke geht und sich Leute in seiner Gegenwart plötzlich unwohl fühlen und ihn canceln. Der zunächst trefflich awkward umgesetzte Kommentar über die Unsinnigkeiten von Social Media und dem dortigen ephemeren Interesse an Menschen überspannt in der zweiten Hälfte den Bogen mit seiner Sicht auf Cancel Culture. Das Paul unbescholten, damit ein Opfer ist, welches nichts für sein urplötzlich aggressives Auftreten in den Träumen kann, liegt auf der Hand. Ihm werden zu Unrecht Existenzgrundlagen genommen und so honorabel Borglis Finger in diese gesellschaftliche Wunde drückt, so scheint er dies gleichzeitig vollkommen zu verteufeln. Gleich, welchen Hintergrund das Canceln besitzt. Komplett kann man hier mit Dream Scenario nicht konform sein, der die Unauffälligkeit, das Muffige seines Protagonisten bis ins Szenenbild ausbreitet und in schönen Momenten wie aus einem Guss wirkt. Selbstredend fügen sich auch die Traumszenen in die komplette Filmszenerie ein. Borgli schuf eine intelligente Groteske mit einem toll aufspielenden Cage, deren Subtext der zweiten Hälfte es unpassend zum restlichen Werk maßlos übertreibt. Das macht den Film leider falsch edgy.

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Dienstag, 13. Februar 2024

Der weiße Hund von Beverly Hills

Bereits vor seiner Veröffentlichung Kontroversen entfachend - die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) hatte bereits im Vorfeld ohne den Film gesehen zu haben Boykott angedroht - wurde Der weiße Hund von Beverly Hills zu einem sehr ungeliebten Kind des Majors Paramount. Zwar erhielt Samuel Fullers Film im europäischen Raum wohlwollende Besprechungen, doch in seinem Entstehungsland sollte eine Weile vergehen, bis er einen Kinostart erhielt. Leider ist die behandelte Thematik heute noch brandaktuell. Schauspielerin Julie nimmt nach dessen Behandlung einen weißen Schäferhund bei sich auf, welchen sie Abends auf ihrem Heimweg angefahren hat. Die Bindung zum Tier wächst schnell, als dieser einen Vergewaltiger vertreibt, der bei ihr zu Hause eingebrochen war. Der Verdacht, das mit ihrem vierbeinigen Kumpanen etwas nicht stimmt, kommt ihr erst, als er bei Dreharbeiten eine afroamerikanische Schauspielkollegin anfällt. Alsbald erkennt sie, dass sie einen White Dog, von Rassisten speziell auf farbige Menschen abgerichtet, besitzt und sucht sich Hilfe beim Tiertrainer Keys, selbst ein Farbiger, der den Hund entkonditionieren soll. Von der Skepsis seines Partners Caruthers begleitet, entwickelt sich dies zu Keys Herzensaufgabe.

Während man bei Paramount von einem eher dem Horror zugewandten Film träumte - während seiner Entwicklung hatte man eine Art Jaws with Paws vor Augen - rückte Regisseur Samuel Fuller mit nüchternem Blick und einer dem Thema angemessenen Sensibilität den in der Gesellschaft verborgenen Rassismus in den Mittelpunkt. Der weiße Schäferhund, anscheinend ganz bewusst namenlos gehalten, ist ein Sinnbild dafür und der Film zeigt durch sein wenig Hoffnung aufkommen lassendes Ende, dass man diesen trotz aller Mühen leider nie komplett ausradieren kann. Es ist ein mehr als hartnäckiges Geschwür, dass jegliche Emotionalität ausmerzt und ein hasserfülltes Gesicht enthüllt, welches blutgierig mit gebleckten Zähnen auf seine potenziellen Opfer zustürzt. Keys bestürzter und mehr noch schmerzerfüllter Blick, dass alle bisherigen kleinen Erfolge im Training mit dem Hund zu nichts führten, fährt ins Mark, während Fuller sich in Resignation ergeht. Ennio Morricones Score, durch den sich eine kleine Traurigkeit zieht, tut sein übriges. Knapp vierzig Jahre nach seiner Entstehung gelingt es dem Film heute noch, Angst vor der sich im Finale androhenden Ohnmacht gegenüber Rassismus zu schüren und verpackt dies in Spannungskino alter Schule. Unaufgeregt und ohne große Sentimentalitäten steuern Sam Fuller und sein Film auf jenes bedrückendes Ende zu, das zum Nachdenken anregt und diesen für einige Zeit im Kopf nachhallen lässt. 

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Sonntag, 12. März 2023

Augen ohne Gesicht

Das schöne an manchen Filmen ist, wie viel doch bei einer scheinbaren Simplizität ihrer Geschichte unter der Oberfläche schlummert. So bemerkt bei Georges Franjus Augen ohne Gesicht, den ich bereits in meiner Jugend sah und als hoch komplexen Film in Erinnerung behielt, der sich damals noch nicht komplett erschließen ließ. Zu meiner Überraschung entpuppte sich der Plot des Films beim Wiedersehen als äußerst einfach und aufgeräumt. Doktor Génessier mag eine Koryphäe auf seinem Gebiet sein und besticht im privaten damit, dass er vom Gram zerfressen einem Herzenswunsch nachjagt, der für ihn unbemerkt längst zum Fluch wurde. Ein von ihm verursachter Autounfall entstellte das Gesicht seiner Tochter Christiane vollständig; seitdem lebt diese nach einer vorgetäuschten Beerdigung eingesperrt in der familiären Villa und harrt darauf, dass ihr Vater ihr zu einem neuen Gesicht verhelfen kann. Hierfür lockt er mit seiner  Gehilfin Louise junge Frauen in sein Haus um bei einer komplexen Operation deren Antlitz seiner Tochter zu verpflanzen. Leider stößt deren Körper das fremde Gewebe immer ab, was in dieser die Verzweiflung wachsen lässt.

Georges Franju, obwohl zur Zeit der Nouvelle Vague aktiv immer etwas von dieser ausgeschlossen, da er mehr als Auftragsarbeiter und Vertreter des alten französischen Kinos galt, schuf mit Augen ohne Gesicht, dessen deutscher Kinotitel Das Schreckenshaus des Dr. Rasanoff schrecklich unpassend und reißerisch ist, ein atmosphärisch klinisch wie distanziertes und gleichzeitig poetisches Horrordrama. Vordergründig mag der Schrecken im eiskalten Vorgehen von Génessier und Louise liegen, die uns in der heutigen Zeit wie zwei Serienmörder unter vielen anmuten, wenn sie unfreiwilligen Spenderinnen für Christianes neues Gesicht in ihren Wohnsitz locken und - noch erschreckender - hinterher wie nicht mehr brauchbares Material entsorgen. Nur Louise scheint noch einige wenige Skrupel zu besitzen, wie es der Film zu Beginn und in weiteren Szenen schildert. Der Doktor selbst ist längst Gefangener seiner eigenen Handlungen und nicht mehr Herr über sich selbst. Seine in der Öffentlichkeit nach außen strahlende Überheblichkeit ist Ergebnis des sich in ihm manifestierten Gottkomplexes, in den ihn seine Schuldgefühle gegenüber seiner Tochter und seine Bemühungen um Wiedergutmachung, mit denen er sich über alle ethischen Werte und die Gesetzgebung hinwegsetzt, trieben.

Über die Jahrzehnte mag Augen ohne Gesicht einiges an Schockwirkung verloren haben; dass die Taten des mörderischen Duos weiterhin eine emotionale Wirkung besitzen liegt an Franjus dokumentarisch anmutende Art der Umsetzung der aus der Feder des Duos Pierre Boileau und Thomas Narcejac (deren Romane u. a. die Vorlagen für Clouzots Die Teuflischen oder Hitchcocks Vertigo waren) stammenden Geschichte. Seine Art der Narration klammert jegliche moralische Wertung der Handlungen seiner Figuren aus; Franju nimmt die Perspektive eines Beobachters ein und lässt somit auch sein Publikum zum stillen Teilhaber werden. Eine effektive inszenatorische Entscheidung, welche den poetischen Aspekt des Films als Kontrast zur kühlen Distanziertheit zum gesamten Plot etabliert. Mit ihrem langen Gewand und der konturlosen und bleichen Gesichtsmaske gleicht Christiane beispielsweise einem Gespenst, das ruhelos und von körperlichen und mehr noch seelischen Schmerzen geplagt durch sein unfreiwilliges Gefängnis wandelt. Ihre Darstellerin Edith Scob legt hierbei beeindruckendes darstellerischen Können zur Schau, wenn sie den Emotionen ihres Charakters allein durch ihre Körpersprache Ausdruck verleiht.

Die berühmte Gesichtsoperation, eindeutig Klimax des Films, leitet die abschließende Tragödie seiner weiblichen Hauptfigur ein. Der dokumentarische Stil stärkt heutzutage noch die Wirkung der zugegeben einfach getricksten, aber effektiv ausgestalteten OP-Szene. Die Auswirkungen dieser neuerlichen Transplantation vergrößern Christianes Leid, welches die tot geglaubte Frau eine Affekthandlung begehen lässt, die die Aufmerksamkeit der Polizei - bezüglich der Mordserie um die gesichtslosen Frauenleichen weitgehend im Dunkeln tappend - auch nochmal auf ihren vermeintlichen Todesfall lenkt. Sowohl die Verflechtung von Horror und Drama im Plot von Augen ohne Gesicht als auch die visuelle Ausgestaltung und Details wie der abgelegene Wohnsitz der Génessiers oder der Umstand, dass die im Keller in Käfigen gehaltenen Hunde des Doktors fast ohne Unterlass bellen, sind der schwarzen Romantik entlehnte Motive, welche in den Händen Franjus gekonnt in den vorherrschenden, um Realismus bemühten Stil eingeflochten wurden.

Die ersonnenen und mit dieser Stilistik kombinierten, traumwandlerischen Bilder erscheinen wie aus einem Guss. Franju kreiert eine Cold Gothic, die auf den Zuschauer eine verführerische Faszination ausübt und - im Vergleich zu späteren Vertreter eines (europäischen) Gothic Horrors der Moderne - weniger mit oberflächlich leerer Symbolik daherkommt. Ohne genau Stellung zu einem Thema zu beziehen, ist Augen ohne Gesicht ein interpretationsreicher Film, der beispielsweise Gedankenspiele um Grenzen und Ehtik in der Medizin, diesbezüglich sogar auf die in der NS-Zeit durchgeführten unmenschlichen medizinischen Experimente ausgeweitet, zulässt oder sich als Beobachtung bezüglich der Ambivalenzen in menschlichen Beziehungen lesen lassen kann. Gleichzeitig kann man den Film als einer der Übergänge vom klassischen zum modernen Horrorfilm ansehen, der außerdem für letzteren ein durchaus großer Einfluss war. Weit weg vom nachfolgenden, enthemmteren Exploitationfilm bereitet er für diesen mit seinem Stil dessen um Authentizität bemühte Gestaltungsweise vor und präsentiert keine außerweltlichen, sondern menschliche, greifbare Monstren als Schreckensbringer die mehr als 60 Jahre nach ihrem ersten Auftritt auf der Leinwand nichts von ihrer Wirkung verloren haben. Der Film verwehrt sich gegen die vielen Schubladen in die man ihn stecken könnte, ist vieles zu gleicher Zeit und, vor allem, ein heute noch rundum gelungenes Genre-Masterpiece.


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Freitag, 23. September 2022

Der Dämon und die Jungfrau

In der heutigen Zeit mögen sexuelle Obsessionen mit einer sadomasochistischen Note als Thema für einen Film weitgehend normal erscheinen. Für das Jahr 1963 war dies anrüchig und durchaus heikel; ganz gleich, dass dies in ein schauerromatisches Gruselstück implementiert wurde. Aus diesen Gründen hatte Mario Bavas Der Dämon und die Jungfrau zur Zeit seiner Entstehung stark mit der Zensur zu kämpfen. In den britischen Kinos fehlten rund 15 Minuten; bei seinem deutschen Kinoeinsatz mussten gut zehn Minuten weichen. Leider verfälschte dies einen wichtigen Aspekt in der Beziehung zwischen den Figuren Nevenka und Kurt. Beide führt das Schicksal unausweichlich wieder zusammen, nachdem die von der betörenden Daliah Lavi dargestellte junge Frau Christian, Sohn des gebrechlichen Grafen Vladimir Menliff, ehelicht. Kurt, Bruder von Christian und schwarzes Schaf der alteingesessenen Aristokraten-Familie, kehrt nach Jahren des Exils auf das Schloss der Familie zurück, um dem frisch getrauten Ehepaar zur Hochzeit zu gratulieren.

Wohlgesonnen ist Kurt niemand. Vor seinem Abgang soll dieser Tanya, Tochter der Bediensteten Giorgia, verführt und in den Tod getrieben haben. Seine Familie fürchtet unterdessen, dass der narzisstisch und sadistisch veranlagte Kurt auf das Ableben des kranken Vaters zu lauern scheint und danach den Familienbesitz für sich zu beanspruchen. Zu guter Letzt wäre Nevenkas wechselhaftes Verhältnis zu Kurt, mit dem sie ein Verältnis hatte und zu diesem eine Art Hassliebe pflegt. Eigentümlich bleibt beider Zusammentreffen am Strand: zuerst lässt sich die frischgebackene Ehegattin von ihrer Ex-Affäre auspeitschen, bevor sie in seinen Armen dahinschmilzt. Out on the wily, windy moors / We'd roll and fall in green. Am gleichen Abend fällt Kurt einem Mord zum Opfer, aus dem sich zuerst ein klassisch aufgebautes Kriminalstück entspinnt, dass sich im Laufe des Films zu einem gothischen Schauerstück entwickelt, in dessen famos durchkomponierten Bildern man am liebsten versinken möchte.

Was Bava zusammen mit seinem Kameramann Ubaldo Terzano auf der optischen Ebene erschafft, sind prächtig ausgeleuchtete, durchstilisierte schwarzromantische Kunstwerke. Passende Schauplätze für eine im Inneren verfallende Familie, die in ihrem abgeschieden gelegenen Schloss langsam verrottet. Mit Kurts Rückkehr und den daraus folgenden Ereignissen wird der Niedergang beschleunigt. Christopher Lee verkörpert den herrischen Aristokraten mit kühler Zurückhaltung, in dem Gewalt, Missgunst und Sadismus deutlich brodeln. Vor und nach seinem Tod, wenn er als Geistererscheinung Nevenka heimsucht und an den Rande des Wahnsinns bringt, entlädt sich dieses Trio in von sadomasochistischem Eros durchzogenen Szenerien. Im Umgang mit Familienmitgliedern wandelt Lee als Kurt auf dem schmalen Grat zwischen letzter Selbstbeherrschung und plötzlichem Brutalitätsausbruch, was ihn als einen Heathcliff 2.0 erscheinen lässt. Tatsächlich lässt sich der Aufbau der Geschichte bis zu einem gewissen Grad mit Emilie Brontës einzigem Roman "Wuthering Heights" (dt. Titel "Sturmhöhe") vergleichen.

Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Ellen Moers ordnete das Buch der sogenannten Female Gothic zu, in der die Autorinnen die Ängste und Sorgen von Frauen im 18. bzw. 19. Jahrhundert in von der Schauerliteraturjener Tage geprägten Motive verpackten. Bavas Film fehlt dafür der weibliche Blick auf seine Protagonistin, gleicht dies jedoch mit atmosphärisch dichtem Grusel alter Schule aus, der sich zu einem schwelgerischen Horrordrama mausert, dem man zumindest eine gewisse Nähe zur Gothic Literatur konstatieren kann. Drehbuchautor Ernesto Gastaldi und seine Co-Autoren Ugo Guerra und Luciano Martino nutzen aus dieser offenkundig bekannte Motive und schaffen daraus eine zugegeben heutzutage nicht mehr sonderlich markerschütternde, aber immer noch sehr gut unterhaltende und geerdete Geschichte, die dabei nie in Trivialität verfällt. Der Plot mag (trotz seiner behäbig ausfallenden Narration) aufgeräumt und in der Regie sehr zielgerichtet umgesetzt sein; Der Dämon und die Jungfrau bietet bei seiner detailverliebten Umsetzung und den "hitzigen" Untertönen vieles zu entdecken, was man als Zuschauer unter der Führung von Mario Bava sehr gerne in Angriff nimmt um in dieser filmischen Horrorschönheit klassischer Prägung zu versinken. 
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Freitag, 22. April 2022

Nacht für Nacht (AKA Are You In The House Alone?)

Von der Hand zu weisen sind die vorhandenen Parallelen nicht, dennoch wäre es zu einfach, den für das US-Fernsehen produzierten Film als günstige Kopie von John Carpenters Halloween abzustempeln. Hüben wie drüben plagt sich eine Highschool-Schülerin mit dem Terror einer ihr zunächst unbekannten Person herum und der finale Angriff auf Protagonistin Gail erfolgt während sie ihrem Gelegenheits-Job als Babysitterin nachgeht. Deren Angreifer erweist sich im Gegensatz zu Carpenters Werk aber als sehr reelle, greifbare Person und nicht als ein zum allmächtigen Boogey Man stilisierten Mörder. Mit seinen ersten Minuten positioniert sich Nacht für Nacht als Film, der nicht einzig als Thriller unterhalten, sondern auf ein brisantes wie wichtiges Thema hinweisen möchte. Die auf einem Buch des Autoren Richard Peck basierende Produktion nutzt viel mehr ihren Suspense-Part um auf die eigentliche Prämisse hinzuarbeiten. 

Noch recht neu an ihrer Schule lebt Gail ein beschauliches Teenager-Leben, welches sich um erste Schwärme, die Schule und ihre Hobbys dreht. Von ihrer besten Freundin Allison mit dem charmanten Steve verkuppelt worden, könnte es für die 17-jährige junge Frau nicht besser laufen. Plötzliche anonyme Anrufe und Zettel mit Drohungen in ihrem Spind und der Umstand, dass ihr Umfeld diese Bedrohungen klein reden und nicht ernst nehmen, machen Gail mit der Zeit immer mehr stark zu schaffen. Die Situation eskaliert, als sie Abends während eines Babysitter-Jobs von ihrem Stalker aufgesucht und vergewaltigt wird. Obwohl ihr der Täter bekannt ist, versucht Gail zunächst zu verschweigen, wer dieser ist. Erst als sie mitbekommt, dass dieser mit seiner Masche weitere Mitschülerinnen bedroht und in der Vergangenheit vergewaltigte, fasst sie den Mut, es mit ihrem Peiniger aufzunehmen.

Nicht unüblich für amerikanische Fernsehfilme, will auch das im Original Are You In The House Alone? betitelte und vorrangig als Publikums-Unterhaltung ausgelegte Werk gleichzeitig ein ernsthaftes Thema ansprechen und aufzeigen. Bis zu diesem Turning Point arbeitet der Film als handwerklich solide umgesetzter Thriller, dessen besten Szenen diese sind, wenn Gail aus ihrer behaglichen Welt herausgerissen und allein mit ihren Problemen gelassen wird. Die stetig wachsende Verzweiflung der jungen Frau, glaubhaft und stark von Kathleen Beller (die einem etwas größeren Publikum als Alana aus Albert Pyuns Debüt Talon im Kampf gegen das Imperium AKA The Sword and The Sorcerer bekannt sein könnte) dargestellt, arbeitet bereits auf den späteren Filmpart als Vergewaltigungsdrama hin und schafft in ihrer Stimmung manch unangenehme Momente.

Dazwischen bemüht sich der Film, falsche Fährten in Bezug auf den bis dahin unbekannten Verfolger Gails zu legen und Zeit mit manchen Nebenplots zu schinden. Bereits dort schlägt der Film dramatische Töne an und gibt viel vom familiären Umfeld seiner Protagonistin preis, was für die weitere Handlung nicht von Belange ist. Der als ausgedehnte Rückblende erzählte Thriller-Teil des Plots wird diesen Teenager-Dramen durchbrochen um ein angepeiltes jüngeres Publikum abzuholen, bevor alles in die Vergewaltigung mündet. Nacht für Nacht bemüht sich redlich, mit dem nötigen Ernst an das Thema heranzugehen und die leider selbst heute noch stattfindende Vertuschung solcher Taten und dem Decken von Tätern anzusprechen. Mit dem abrupten Ende und dort eingesetzten Voice Over, welches erzählt, was mit Gails Vergewaltiger geschah und auf die Ungerechtigkeiten des damaligen Rechtssystems hinweist, bleibt ein leicht fader Beigeschmack.

Der vor einigen Monaten von Vinegar Syndrome als Bestandteil eines Boxsets auf Blu Ray veröffentlichte Film bleibt in dieser Hinsicht ein in Bezug auf seine Thematik um Sensibilität bemühtes Werk, das dann leider doch nur an der Oberfläche kratzt. Sowohl als Drama wie als Thriller, wobei Nacht für Nacht glücklicherweise kein sensationsheischender Schmuh ist. Auf der anderen Seite gingen seine Schöpfer einen mutigen Weg, mit ihrem Film auf ein auch aktuell weiterhin wichtiges Thema aufmerksam zu machen. Dabei sei die Frage, ob er als Thriller mehr Spannungsmomente vertragen hätte, letztendlich hinten angestellt. Eher scheint es Unsicherheiten diesbezüglich gegeben zu haben, wie man seine Materie an das US-Fernsehpublikum herantragen solle, dass es durch eine zugeknöpfte bzw. konservativen Haltung vieler Amerikaner dort nicht gleich zu einem Massenaufschrei kommt. Leider steht man sich damit selbst im Weg und schafft somit nur bis zu einem gewissen Punkt großflächig zu überzeugen.

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Dienstag, 12. Oktober 2021

Der Geschmack von Leben

Während manche Vertreter unser Spezies weiter angestrengt über den Sinn der Existenz des einzelnen Individuums ihre Gehirnzellen verbiegen, geht Roland Reber einen Schritt weiter. Weniger hohl-phrasierend wie in Engel mit schmutzigen Flügeln (hier besprochen) fragt er in seiner kollagenartigen Komödie, wonach das Leben schmeckt. Anders als erstgenannter Film ist Der Geschmack von Leben nicht spirituell aufgeladen, nicht sperrig verkopft sondern locker und spritzig. Die Suche nach dem Sinn des eigenen Seins, dem Grund der Existenz scheint abgeschlossen. Das Leben und die Lust als solche möchte auf allen Wegen genossen werden. Neugier auf die verschiedenen Wege und Arten, wie Menschen ihr Dasein verbringen, durchzieht sein Werk und ist die Antriebsfeder von Protagonistin Nikki. Dargestellt von Rebers Muse Antje Mönning streift sie bewaffnet mit ihrer Videokamera durch das Land, um spontan Leute vor diese zu zerren um sie für ihr Vlog zu interviewen.

Ihre weiblichen Talkpartner berichten in ihren Geschichten mit traurigen, manchmal resignierenden Gesichtern von Einsamkeit oder sexueller Frustration, was von Nikki mit locker-flockigen Sprüchen weggegrinst wird. Die offenherzige Videobloggerin rät dazu, die Zitronen, die einem das Leben so schenkt, open-minded anzugehen und den sauren Momenten der Seins frohen Mutes zu begegnen um diese wie Nikki mit einem (Dauer)Lächeln zu entfernen. Ein ernsthaftes Interesse am Schicksal der Nebenfiguren und ihren Problemen scheint nicht zu bestehen. In seiner Position als Autor offenbart das belächelnde Abfertigen der Protagonistin Reber als einen alten, weißen Mann, der unter dem Deckmantel einer aneckend wollenden Anti-Establishment-Komödie durchaus reelle Nöte von Frauen nicht für voll nimmt, weglächelt und eine misogyne Haltung annimmt. Lieber rücken er und seine Parterin Mönning, Co-Autorin des Scripts, diese ins rechte Licht. All about Nikki.

Diese erklärt dem Zuschauer, dass das Leben nach Sperma schmeckt. Passend dazu trinkt sie an manchen Stellen aus einem penisförmigen Becher mittels Strohhalm und saugt anscheinend das Leben sinnbildlich in sich auf. Der Film versteht sich als Ode an die Freiheit des Einzelnen und möchte seine Hauptfigur als freche, freizügige und selbstbestimmte Frau darstellen, die mit Augenzwinkern und Witz durch das Leben gondelt und vieles nicht so Ernst nimmt. In wenigen Szenen gelingt es Reber, zumindest ausufernde Deutschtümelei gekonnt zu überspitzen. Im Gesamten wirkt Der Geschmack von Leben infantil und angestrengt humorig. Was edgy wirken soll, etwa die Vlog-Kategorie "Die Fi(c)ktion des Monats", in der Nikki die sexuellen Fantasien ihrer Zuschauer präsentiert, mutet an, als hätte sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den 90ern an TV-Formaten wie Peep oder Wa(h)re Liebe versucht. Dafür, dass der Film dem gut bürgerlichen Durchschnittsdeutschen gegenüber eine Anti-Haltung einnimmt, mieft es mehr nach Konservatismus.

Offen gelebte Sexualität, autonom, feministisch: Schlagworte die der Film mit leichter Heiterkeit zu propagieren scheint, im seinem Kern mehr ein Porno für CDU-Anhänger ist. In Rebers Karneval der Nacktheit steht Mönning hoch oben auf dem Wagen und verteilt Fellatio für alle. Der Geschmack von Leben verwechselt emanzipatorische Lebensart mit Affirmation alter Rollenbilder, wenn Mönning als Nikki sich willig Fremden hingibt und auf einem öffentlichen Männer-WC eine schnelle Nummer schiebt oder Blowjobs gibt. Das der Phallus an unmöglichen Stellen in Erscheinung tritt - trauriger Höhepunkt ist ein Typ im Penis-Kostüm als Gentränkeverteiler bei der abschließenden Talkrunde - ist weit weg von ironischer Brechung althergebrachter, heterosexueller Rollenbilder. Nikkis Schwanzhingabe ist keine frei gelebte Sexualität, kein lockeres Ausleben der Lust sondern eine Altherrenfantasie mit aufgesetzten humoristischen Touch, der weniger verkopft wie andere Reber-Filme, aber eher eine augenscheinliche Absage an den Feminismus ist, getarnt als positiv aufgeladene Nummernrevue.
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Donnerstag, 23. September 2021

The Kid Detective

Ruhm ist manchmal wie die Blüte eines Löwenzahns. Seine Hochphase bzw. Blütezeit kann kurz und ansehnlich sein; doch ehe man sich versieht zerstreut er sich in alle Winde. Cast-Mitglieder von allseits umjubelten, aber längst beendeter Serien können davon ein trauriges Lied anstimmen. Von einer steilen Karriere während oder nach dem Hype um das Next Big Thing profitieren wenige. Manche tingeln hinterher von Convention zu Convention und rühmen sich dort, gleich der tatsächlichen Größe ihrer Rolle, ein Teil der Serie gewesen zu sein oder verkommen zum Nebenrollengesicht in Filmen, die im Niemandsland der Publikumswahrnehmung versauern. Nicht gänzlich schlimm, aber auch nicht befriedigend ist durch geschickte Rollen- oder Filmwahl das kurze Auftauchen aus der Schauspiel-Versenkung, bevor man bis zum nächsten Kurzzeit-Hit die nächsten Jahre wieder aus dem Gedächtnis der Filmwelt verschwindet. Schlimmstenfalls gerät man vollends in Vergessenheit bis sich wenige Fans oder Promi-Postillen fragen, was eigentlich aus der Person wurde.

Adam Brody könnte man zwischen den beiden letztgenannten Möglichkeiten verorten. Anfang der 2000er einer der Hauptdarsteller der zu ihrer Zeit beliebten Teenie-Serie O. C., California, gerät man schnell ins Rätselraten, wo Brody nach deren Ende bis zum heutigen Datum noch zu sehen war. Bis auf das Megan Fox-Horror-Vehikel Jennifer's Body will so recht kein weiterer Titel einfallen. Mit diesem Hintergrund erhält seine Rolle des Abe Applebaum in The Kid Detective gewisse Meta-Qualitäten: ein verblasster Serien-Stern mimt einen seinem damaligen Ruhm als Kinderdetektiv hinterher trauernden und in Selbstmitleid versinkenden Typen, der immer noch Detektiv spielt und - sofern sich ein Klient in sein Büro verirrt - banale Fälle löst. Einst gefeiert, als er den Dieb der Schulspenden ausfindig machen konnte, sucht er heuer nach verschwundenen Katzen. Aufwind erhält seine Karriere, als die junge Caroline ihn anheuert, um herauszufinden, wer ihren Freund ermordet hat.

Der im Nebel des Glanzes seiner alten Tage lebende, vor Selbstüberschätzung strotzende und innerlich um die eigene Fehlbarkeit wissende, sich auch deswegen selbst bemitleidende Abe wäre schnell als Unsympath abgestempelt. Der immer etwas als Dauerjugendliche rüber kommende Brody schenkt der Figur eine kindliche Naivität und den Charme des armen Jungens, dem man für seine Schwächen schwer böse sein kann. Ganz egal, in welches Fettnäpfchen er jüngst getreten ist. Auf der anderen Seite offenbart eine Rückblende auf die ruhmreichen Tage das wahre Dilemma von Abes Persönlichkeit. Die Entführung der Gracie Gulliver, Tochter des Bürgermeisters und Sekretärin seiner Kinder-Detektei, sitzt als tiefes Trauma in seiner Persönlichkeit. Weder die scharfe Beobachtungsgabe noch seine schlauen Schlussfolgerungen reichen aus, um in der Erwachsenenwelt und den Ermittlungen mitzuspielen. Der Helfer in der Not ertrinkt in seiner Hilflosigkeit.

Die Gratwanderung zwischen dem Drama um Abes Phlegma, längst mehr Depression als schwerfällige Faulheits-Zelebrierung und einem mal lakonischen, mal hinreißend kindischen und sympathischen Humor ist das eine, was The Kid Detective zu einer kurzweiligen und sympathischen Dramödie werden lässt. Noch herziger ist seine Auslegung als immer etwas aus der Zeit gefallen zu scheinender Film, in dem unsere Gegenwart mit einer 50er-Jahre-Stilistik verschmilzt und immer mit einem Augenzwinkern versehen den Film Noir mit seinen tragischen Detektiv- bzw. Ermittler-Figuren persifliert. Begleitender Off Kommentar, die gescheiterte Existenz von Applebaum, der gerne mal ein oder zwei Gläser Brandy frühstückt, immer abgebrannt, der fantastische Jazz-Soundtrack und ein Fall, der sich als größere Sache als gedacht entpuppt: ohne ständige Veralberung oder Übertreibung gängiger Klischees ist The Kid Detective gespickt von hübschen Ideen, eine Not Quite Hard Boiled-Story, die eine Geschichte um Erwachsene mit einem kindlichen Gemüt erzählt.

Ein weiterer Durchhänger des Protagonisten geht leider zu Lasten des Plots, der mit seiner Hauptfigur in der zweiten Hälfte in den Seilen hängt und sich mit leichten Mühen wieder aufrappelt. Die dunkle Seite der Geschichte um Abe und der Entführung Gracies, die nicht nur dem ehemaligen Kinder-Detektiv sondern auch seiner Heimatstadt und ihren Bewohnern das sonnige, unbeschwerte Gemüt und die Unschuld nahm, bricht stark mit der unbeschwerten Tonalität der ersten Hälfte. Es mag eine Vorbereitung auf die niederschmetternde Auflösung am Ende sein; dem Film gelingt dieser Übergang nicht ganz so sauber. Wenn Abe seiner Nemesis in Form des Entführungsfalls von einst gegenüber tritt, diesen nochmal aufrollt und wie bei Hitchcock zuvor nicht beachtete Details einen Zusammenhang ergeben, klatscht dem Zuschauer das Ausmaß der Auflösung nicht so schonungslos schockend ins Gesicht wie beabsichtigt.

Ihre Wirkung verfehlt sie nicht,  nur fehlt ihr die ganz große Überraschungswirkung. The Kid Detective muss sich beim vorbereitenden Aufbau im Plot und der gewollten Wendung in der Stimmung um 180 Grad einen Vergleich mit dem RKSS-Hit Summer of 84 gefallen lassen. Glücklicherweise liegt es dem Film fühlbar fern, seine Vorbilder im Bereich des Noirs oder auch den genannten Film des kanadischen Trios plump kopieren zu wollen. Was Applebaum hier aufdeckt, hallt nach. Ihm, seiner Klientin Caroline, der ganzen Stadt. Das Finale von The Kid Detective ist ein bittersüßes, dass seinen Figuren die letzte Erinnerung an das Vergangene nimmt, von dem der Film selbst bis dahin größtenteils beseelt ist. Gleichzeitig ist es Abes vermeintlicher Übergang von der Verlierer- auf die Gewinnerstraße und der Geruch von Aufbruch und Hoffnung liegt für ihn und seine Heimat in der Luft. Diese Hoffnung hat man auch für Adam Brody, der hier sichtbar Lust und Spaß an dieser Rolle hatte; vielleicht auch, weil der Werdegang seiner Figur Gefühle in den weniger ruhmreichen Momente in der Karriere nach O. C., California spiegeln und gewissermaßen verarbeiten ließen. Vielleicht hilft ihm die kleine Rolle im jüngst größtenteils wohlwollend aufgenommen Promising Young Woman. Bei The Kid Detective, der bislang letzte Eintrag in seiner Filmographie, darf man derweil hoffen, dass dieser noch kleine, unbekannte Film bekannter wird. Verdient hat er es auf jeden Fall.



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Freitag, 21. Mai 2021

Tödlicher Hass

Das Leben ist ein langer Prozess. Unausweichlich steuert der Mensch Zeit seiner Geburt dem Übergang ins Kosmische entgegen. Die eigene Lebensspanne, die Zeit selbst, ist eine Variable, die mehr oder minder sinnvoll bis zum Ende der eigenen Tage begangen wird. Das Individuum Mensch steuert einer Erfüllung der eigenen Existenz entgegen; gleich ob es sich um den täglichen Broterwerb oder der Freizeit handelt. Die eigene Position mit der Deckung von Grundbedürfnissen festigend, steuert ein nicht geringer Teil der Menschen einem Traum oder festgesteckten Ziel entgegen, um diese zu verbessern. Der Stagnation entgegenwirkend, sind es schon kleine Veränderungen wie zum Beispiel ein Jobwechsel, der den eigenen Lebensstandard aufwertet. Mit diesem Ziel vor Augen eröffnet Tony Arzenta seinem Boss und gleichzeitigem Freund Nick Gusto, dass er seine bisherige Tätigkeit als Auftragsmörder der Mafia zugunsten seiner Frau und des innig geliebten Sohns an den Nagel hängen will. 

Arzenta bekommt von Gusto zu hören, dass der Ausstieg aufgrund seiner umfassenden Kenntnis der Namen und Wirkungsbereiche der Organisations-Oberhäupter nicht leicht bzw. gänzlich unmöglich sein wird. Der Anspruch auf Selbstbestimmung des eigenen Seins erlischt, sobald man sein Leben der Familie verschrieben hat. Tonys Bitte wird bei einem Treffen der Führungsetage der Mafia abgeschmettert und Gusto dazu aufgefordert, die geltenden Regeln einzuhalten und das aufkommende Problem zu beseitigen. Dies verläuft leider anders als geplant, denn die Arzenta geltende Bombe, die man an seinem Auto anbringt, tötet seine Familie vor dessen Augen, weil bei der morgentlichen Fahrt zur Schule der Wagen seiner Frau nicht anspringt und sie auf das Auto ihres Manns ausweicht. Dem letzten Lebensinhalt beraubt, sinnt Tony nach Rache und beginnt eine Jagd auf die Leute, welche für den Tod seiner kleinen Familie verantwortlich sind.

Die innere Leere seiner in den Entstehungsländern titelgebenden Hauptfigur dominiert die Stimmung von Tödlicher Hass bis zu dessen unausweichlichem Ende. Tot ist Arzenta bereits lange vor dem missglückten Anschlag auf sein Leben. Seine Arbeit führt er aus, wie es diese gebietet: eiskalt und präzise. Über die Jahre davon aufgefressen, fast ausgehöhlt, spult er die Aufträge seiner Bosse ohne große Emotionen ab. Alain Delons unterkühltes Spiel, sein starrer Blick auf den von der Explosion zerstörten Wagen, mag zu distanziert vom emotionalen Punkt dieser Szene sein, aber fördert das Dilemma seiner Figur zu Tage: der bisher gewählte Lebensweg hat den Menschen Tony Arzenta verkümmern lassen. Er war schlicht ein Werkzeug, eine Sache, die durch ihr dysfunktionales Verhalten -  dem Begehren und Wunsch nach einem normalen Leben - unbrauchbar wird und beseitigt werden muss. Unser aller Lebensweg wird durch unsere Entscheidungen gelenkt; dass sich Tony in die Arme der Mafia begeben hat, führte ihn auf eine Einbahnstraße, durch die er sich nun mit blankem Hass und Gewalt lenkt.

Was Arzenta wahrscheinlich insgeheim klar ist, trotz der kleinen Aussicht auf ein versöhnliches Ende, wird dem Zuschauer offensichtlicher und mit gleicher kühler Art, wie sich der Mafia-Assassine gebiert, vor Augen geführt. Erwartungsgemäß nimmt die Geschichte kein gutes Ende. Die an deren Schluss installierte Wendung lässt sich leider sehr einfach erahnen, weil angedeutete Vorzeichen mitunter nicht konsequent genug auf eine andere Fährte gelenkt werden. Tödlicher Hass diesbezüglich als zwar gut besetzten, einfach gestrickten Rachethriller abzutun, wäre zu einfach. Er mag manche Stellen besitzen, die durch seine simple Konzeption repetitiv ausfallen; den Mangel an narrativer Finesse gleicht er mit seiner Gesamtwirkung aus. Schmucklos trist eingefangen aber gleichermaßen vorzüglich fotografiert macht Duccio Tessari Tödlicher Hass mittels seiner Regie zu eben jenem langen Prozess, der das Leben nun mal ist. 

Auf knapp zwei Stunden komprimiert wird das Leben einer Figur geschildert, wie man es sich selbst nicht wünscht. Seiner Grundlage beraubt, verdammt zum existieren und funktionieren. Wie in seinen Gialli verzichtet Tessari auf unnötigen Bombast. Seine Regie war meist immer sehr geerdet, auf die Funktionalität des Stoffs im Gesamtwirken fixiert, aber mit gutem Blick für die Stimmungen, die das Script bietet. In der Tradition anderer italienischer bzw. europäischer Gangsterfilme ist sein Blick auf das Wirken von Menschen im Milieu ein düsterer. Weit entfernt von glorifizerenden bzw. romantischen Blickwinkeln im amerikanischen Kino. Mehr ist Tödlicher Hass ein Requiem für einen augenscheinlich noch lebenden, aber innerlich längst gestobenen Menschen, der bis zum Ende seiner Existenz Genugtuung für die ihm zugefügten Leiden haben möchte. Weit über das hinaus gehend, was ausschlaggebend für sein Handeln ist. Tessari lässt den Zuschauer wie seinen Protagonisten langsam leiden in einem Kino bar jeder großer Emotion, aber reich an Atmosphäre. 

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Mittwoch, 14. April 2021

Die wilde Meute

The world is yours. Was sich Toni Montana in Brian de Palmas Scarface auf einer güldenen Statue prangend in sein Büro stellte, scheint dem Kleinkriminellen Pierro, von seinen Kumpanen meist Pete genannt, vor dessem geistigen Auge zu schweben, wenn er in seine Zukunft blickt. Er fühlt sich zu größerem berufen, als nur von den kleinen krummen Dingern zu leben, die er dreht. Hier ein Bruch, dort ein Überfall; es bringt dem jungen Vater nicht viel an Moneten ein. Ein Umstand, den seine Freundin - eine Prostituierte - ihm ständig an den Kopf wirft. Scheren tut ihn dies nicht viel; lieber lebt er weiter ein Leben zwischen lockerer Ziellosigkeit und gewaltsamen Ausbrüchen, die er mit seiner Bande auslebt. Als sein Hehlerboss ihm einen größeren Auftrag zuträgt, tappt er ahnungslos in eine Falle des Kommissaren Cotrone, der schon seit geraumer Zeit den Jungkriminellen auf den Fersen ist. 

Was Pierro und Cotrone vereint, ist ihre gemeinsame Verachtung gegen das bestehende System. Während der Gossenjunge seiner Ansicht nach den Kampf auf den rauen Straßen Roms Tag für Tag aufs neue führt, resigniert Cotrone gegenüber einer Gesetzgebung, die ihn bei der Ausübung seines Berufs einengt und Steine in den Weg legt. Ein aufrichtiger Hüter des Gesetzes, der mit Leidenschaft gegen vorherrschende kleine wie große Ungerechtigkeiten vorgeht, ist der in die Jahre gekommene Kommissar schon lange nicht mehr. Gleichgültig nimmt er in Kauf, dass durch seine Methoden auf Seiten der Kriminellen weitere Tote entstehen könnten. Zynisch kommentiert er dies mit der Betrachtung, dass damit gleich etwas mehr vom Schmutz runter von den Straßen wäre. Pierro und Cotrone eint eine Indolenz, in der sie mit dem Kopf nicht durch eine, sondern gleich mehrere Wände gehen. Schmerzlos betrachten Sie den Niedergang ihrer eigenen Welt ohne ein Interesse, etwas daran ändern zu wollen. 

Was Die wilde Meute vom Poliziottescho der damaligen Zeiten unterscheidet, ist der Versuch, gleichermaßen zwischen sleazigem Krimi und ambitioniertem Sozialdrama zu wandern. Reibungslos gelingt dies dem Drehbuch nicht. Höhepunktlos zeigt es harmlose Szenen, die einerseits untermauern, dass Pierro und Co. nicht komplett der Jugend entwachsen sind, wenn man z. B. unbekümmert Spaß bei einem Nachmittag am Strand hat. Andererseits werden diese von bedrückenden und schonungslosen Momenten konterkariert, wenn Pierros Kumpanei ein Pärchen überfällt, die Frau dabei aus dem Auto zerren und vergewaltigen oder wenn die Gefühlskälte des Bandenführers dafür sorgt, dass sich seine junge Affäre in den Tod stürzt. Leider orientiert sich das Script mehr an genreüblichen Strukturen: das, was der Film erzählt, ist (nicht nur) für Freunde italienischer Gangsterfilme leicht vorauszusehen. Große Überraschungen sollte man vom Film nicht erwarten. 

Bei allen Klischees bzw. narrativen Genre-Mustern, die der Film bedient, überzeugt Marcello Andreis Gespür für die schweren Seiten dieser Geschichte. Er drängt den Zuschauer in die Rolle des stummen Betrachters und lässt wie beide männlichen Hauptfiguren die Emotionalität meist außen vor. Weder für Pierro noch für Cotrone können größere Sympathien aufgebaut werden. Die wilde Meute macht sich deren Gleichgültigkeit zum Instrument; sie definiert die Stimmung des Films Anhand der Handlungen der Protagonisten. Martin Balsams Kommissar mit schwarzem Blick in Richtung Zukunft und Joe Dallesandro der mit seinem makellosen Äußeren zunächst zu glatt als skrupelloser Egomane erscheint. Die Wahl den Amerikaner als Pierro zu besetzen, ist ein weiter Pluspunkt für den Film. In seiner totalen Ichbezogenheit konzentriert, prallt bis zum bitteren Ende alles schlechte, was um ihn herum passiert, an seiner hübschen Oberfläche ab.

Andrei hätte gut getan, diese Stimmung beizubehalten, die den Zuschauer in eine Ohnmacht gegenüber der allerorts zu verzeichnenden Apathie schickt, die später in Wut oder Fassungslosigkeit zu kippen vermag. Ohne seine exploitative Charakteristik wäre Die wilde Meute in gewisser Weise seichter Neorealismus Light geworden. So hat der Film manchmal mit seiner unspektakulären Erzählweise und den Brüchen in seiner Atmosphäre zu kämpfen, was die deutsche Synchronfassung mit ihrer Nähe an Schnodderwerken eines Karlheinz Brunnemann oder Rainer Brandt verstärkt. Genau solche Ungereimtheiten in der Gesamtwirkung sind es, die italienische Genrefilme so interessant wie liebenswert machen. Richtig schlecht oder vergessenswert ist das, was Die wilde Meute bietet keineswegs, sondern ein dezent schwächelnder aber trotzdem guter Poliziotteschi, dem manchmal mehr Ernsthaftigkeit gut getan hätte, da diese ihm wirklich gut zu Gesicht steht. 

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Freitag, 19. März 2021

Porträt einer jungen Frau in Flammen

Es sind diese Blicke zwischen Malerin Marianne und ihrem Modell Héloise und die darin innewohnenden Gefühle, Begehrlichkeiten und Sehnsüchte, die so nuanciert und für den Zuschauer emotional spürbar von ihren beiden Darstellerinnen ausgetauscht werden, die Porträt einer jungen Frau in Flammen zu einer wahren Schönheit von Film werden lassen. Die Zuneigung der beiden Frauen wächst zu einer zarten, betörenden Pflanze mit leider kurzer Lebensdauer heran. Es ist eine Liebesbeziehung im Zeitraffer; zeitlich begrenzt, deren Schicksal unausweichlich ist. Marianne und Héloise finden zueinander, weil letztere Modell für ein Porträt stehen soll, welches zu einem potentiellen Heiratskandidaten ins ferne Mailand geschickt werden soll. Bei gefallen soll die Vermählung folgen; Héloise findet keinen gefallen an dem Plan, verlor sie dadurch ihre geliebte Schwester, die sich deswegen von den Klippen der Insel, auf der ihre Familie ansässig ist, in den Tod stürzte. Aus dem Kloster geholt, soll die verschlossene Frau den Platz der jüngeren Schwester einnehmen.

Verschlossen, ergriffen von Wut,  auf die Mutter, auf den Verlust  und trauernd, trifft sie auf Marianne, die ihr als Gesellschafterin vorgestellt wird, um sie bei ihren Spaziergängen an der Küste zu begleiten. Was Héloise nicht weiß: eigentlich ist Marianne eine Malerin, die heimlich von ihr ein Porträt anfertigen soll. Geschuldet ist diese Heimlichkeit der Sturheit der Hochzeitskandidatin, die sich vehement weigert, Modell zu sitzen und das Gemälde von Mariannes Vorgänger zerstörte. Es scheint, als ahne Héloise, dass Marianne nicht die ist, die sie vorgibt zu sein. Skeptische, misstrauische Blicke treffen auf die beobachtenden Augen der Malerin, die in den späten Abendstunden aus der Erinnerung heraus das Porträt fertigt. Je länger die beiden Frauen Zeit miteinander verbringen, wächst die Sympathie und Héloises harte Gesichtszüge, aus deren fast versteinerter Mine so viel Schmerz und Bitternis stumm herausschreit, werden langsam weicher. Sie öffnet sich ihrer Begleiterin, die wegen ihrer Maskerade immer mehr von Gewissensbissen geplagt wird.

Mit Mariannes Offenbarung wird im doppelten Sinne eine Maske abgelegt. Héloise erfährt den wahren Grund derer Anwesenheit und öffnet sich dieser entgegen aller Erwartungen weiter. Bereitwillig will sie der Malerin nun für ein Porträt Modell sitzen, weil Marianne mit dem ersten Bild nur die Oberfläche der Frau eingefangen hat. Dessen Schemenhaftigkeit stellt wunderbar dar, dass auch die Geschichte des Films bisher nur eine gewisse Vorarbeit geleistet hat. Mit der Abreise von Héloises Mutter nach Mailand erblüht die zeitlich begrenzte Liebe zwischen der Malerin und ihrem anfangs noch so verschlossenen Modell gänzlich. Was Céline Sciammas Porträt einer jungen Frau in Flammen von anderen Liebesgeschichten angenehm abhebt, ist die ruhige und nüchterne Art, in der sie von der Liebe beider Frauen erzählt. Sie fühlt sich natürlich an, fängt die wunderbare Chemie zwischen ihren beiden Hauptdarstellerinnen mit jeder Einstellung ein und begegnet der Liebe ihrer Figuren im Kontrast zu den gesellschaftlichen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts, der Zeit, in der die Geschichte spielt. 

Sciammsas Film ist ein Film der tiefen Blicke, die durch die Oberfläche hindurch in das Fundament der beiden Menschen schaut, die er porträtiert. Die Autorin und Regisseurin stellt unser Verhältnis zum Sehen in Frage und fördert es mit bemerkenswerter Beiläufigkeit. Die Augen ihrer beiden Charaktere müssen sich oft treffen, durchbohren, dringlich das aufsaugen, was augenscheinlich und fast versteckt vor fremden Blicken wahrzunehmen ist, bevor beide ihren Kern und das wahre Ich des Gegenübers und ihrer selbst erkennen. Gleichzeitig erschafft sie eine der schönsten Liebesgeschichten im Film der jüngsten Zeit. Distanziert und dann wieder ganz nahe am Geschehen fängt sie jede noch so kleine Geste, Berührung, Zärtlichkeit und immer wieder Blicke der zwei Frauen ein. Die hier geschaffene Intimität greift spürbar auf den Zuschauer über; das ist hochgradig sinnliches Kino, welches uns dazu herausfordert, einem Künstler gleich den Blick zu schärfen und das wahrzunehmen, was auch Marianne bei Héloise zuerst verborgen bliebt.

Augenscheinlich überlässt Sciamma in ihrem Film den Frauen das Feld. Bis auf einige Minuten gegen Ende ist kein männliches Wesen anwesend. Bleibt der Mann physisch abwesend, ist er trotzdem allgegenwärtig. Die Welt des Films ist eine feminine, bei der das Patriarchat gleichwohl Auslöser für das Aufeinandertreffen von Marianne und Héloise ist und wie ein schwerer Schatten über dieser thront. Er sorgt für die Erkenntnis, dass die Liebe der beiden Frauen nicht für ewig währt, bringt im Subplot Haushälterin Sophie eine ungewollte Schwangerschaft und wird mit seiner im Hintergrund schwelenden Präsenz dafür sorgen, dass die von Sciamma hinreisend als ganz selbstverständlich dargestellte Liebe in der von ihr gewählten Zeit nicht existieren darf. Sie begegnet dieser patriarchalisch aufgebauten und gelenkten Welt nicht mit Groll oder Wut. Mehr feiert sie in Porträt einer jungen Frau in Flammen feminine Unabhängigkeit allgemein und im Kontext der zeitlichen Gegebenheiten ihrer Geschichte. Die Tragik dieser, so emotional schön und betörend die Blütezeit der Beziehung ist, leidet dafür leicht an Sciammas Sachlichkeit. Das leider keine Zukunft für Héloise und Marianne besteht, ist als gegeben zu fest im Steine gemeißelt. Die zuvor so ergreifende Emotionalität lässt hier an Kraft vermissen. Im Vergleich zum Sciammas Prämisse und der Anmut ihres Films ist das meckern auf hohem Niveau.


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Montag, 16. November 2020

[Rotten Potatoes #06] Hagazussa - Der Hexenfluch

Ich mag Horrorfilme, welche einen Kontrast zur bei größeren Produktionen des Genres mittlerweile immer häufiger vorherrschenden zwanghaften Event-Schockerei darstellen. Hagazussa bewegt sich von sowas meilenweit weg. Für das anti-cineastische Big Budget-Movie-Party-Volk dürfte der Film mit seiner elegischen Stimmung, in dem mehr seine Bilder als die Figuren sprechen, eine harte Geduldsprobe darstellen. Lukas Feigelfelds Abschluss- und gleichzeitiger Debütfilm spiegelt hierbei in seiner erzählerischen Beschaffenheit den Ort seiner Geschichte wieder. Das heimelige Tal mit der abgelegen liegenden Hütte, in welcher Protagonistin Albrun als kleines Mädchen alleine mit ihrer Mutter, später als erwachsene Frau, nun selbst Mutter, lebt, ist nur scheinbar ein Schutz versprechender Rückzugsort. Die sich darüber ringsum auftürmenden Alpen, deren steilen Anstiege unter einer schweren Schneedecke auf das nächste Frühjahr warten, besitzen manch unwirtlichen Pfad, unter dem sich unerwartet manche tiefe, schwarze Schlucht auftut. 

In solche schwarzen Untiefen lässt Feigelfeld den Zuschauer blicken, wenn er sich seiner weiblichen Hauptfigur Albrun widmet. Die Frau hatte und hat es in ihrem Leben nicht leicht. Deutet der Film zuerst ein sexuell übergriffiges Verhalten der todkranken, von ihrer kleinen Tochter mühevoll gepflegten Mutter an, wird die zur Frau gereiften Albrun als von der Gemeinschaft des nahe gelegenen Dorfs als Hexe verschrien gemieden und ausgegrenzt. In ständiger Isolation befindlich, muss sie sich mit ihrem Baby - über den Vater verliert das Script kein Wort - alleine durch die Welt schlagen. Mit Swinda findet sie eine vermeintliche Freundin, welche die zerbrechliche Persönlichkeit Albruns mit einer vordergründig gut gemeinten Tat näher Richtung Abgrund führt. Die finstere Präsenz, welche Albrun bereits davor wahrgenommen hat, lässt mit dem neuerlichen Trauma die grenzen zwischen diesem, Nachtmahren und der Realitäten weiter verschwimmen. 

Seinen Horror nährt Hagazussa nicht aus irgendwelchem dunklen Hexenwerk sondern aus dem Verfall der Psyche seiner Protagonistin. Atmosphärisch dichte, metaphorisch aufgeladene Bilder schildern die traurige Geschichte einer gefemten, ausgegrenzten Frau, allein gelassen mit den dunklen Geistern ihres Innersten. Selbst auf Hilfe von der allmächtigen Kirche darf Albrun nicht hoffen. Das starre Gefüge der kleinen Gemeinschaft hat keinen Platz für diese. Ihre abgeschiedene Behausung steht klein und verloren im bedrohlichen Schatten der Bergwand; so verloren, wie sie es schon seit jüngsten Jahren ist. Manchmal ist das leider auch der Film. Die unheilschwangere Bilder- und Stimmungsschar fühlt sich abgrenzend in. Wie die Hauptfigur steckt das Script zum Teil in seiner eigenen Welt fest. Albrun verliert sich in den verschwimmenden Grenzen zwischen Realität und Einbildung und der Zuschauer diese an die aufgeheizte, sperrige Bilderpracht.

Davon abgesehen ist Hagazussa für einen Abschlussfilm auf allen Ebenen überzeugend wie beeindruckend. Die sorgfältige Bildgestaltung, Aleksandra Cwens Schauspiel, der sphärische, zwischen Drone und Ambient Neofolk zu verortende Soundtrack der Band MMMD und ein detailliertes Setdesign lassen schnell vergessen, dass es sich bei diesem Film um ein kleines, mit Fördermitteln umgesetztes Werk handelt. Den Vergleich mit Robert Eggers großartigem The VVitch (hier besprochen) muss er sich wegen der vermeintlichen Hexenthematik gefallen lassen. Feigelfeld zielt mit seiner Prämisse nicht darauf ab, unserer traditionell vorherrschenden Vorstellung von Hexen Platz zu lassen. Sein Horror ist menschlischer Natur, in verzerrte Bilder von Aberglauben und lebendig gewordener Psychosen getränkt, der deswegen umso schrecklicher und nachhallender ist, als hätte er sich auf formelhafte Genrekost beschränkt. Vielleicht hab ich den Film unterbewusst absichtlich nicht näher an mich rangelassen und habe mich von seiner Geschichte abgegrenzt, um mich nicht komplett verloren in Albruns Schicksal zurecht zu finden. Nichtsdestotrotz ist der Film ein tolles Beispiel dafür, dass Genre selbst innerhalb der hiesigen und schwierigen Filmförderungs-Landschaft einen Platz hat bzw. haben sollte.

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Dienstag, 25. August 2020

The Nightingale

Während uns Jennifer Kent in Der Babadook mit weitgehend subtilem Horror das Fürchten lehrte, verzichtet die Australierin in ihrem neuesten Werk auf leise Töne. In The Nightingale trägt sie ihre Geschichte so rau vor, wie gleichzeitig ihr Heimatland und deren ersten Bewohner darin dargestellt werden. Das Drama um zwei Außenseiter, Clare, Strafgefangene und Leibeigene des unberechenbaren Armeeoffiziers Hawkins und Billy, ein Aborigene, dem gewaltvoll die westliche Kultur eingetrichtert werden soll und hin und sich wieder für die Armee als Führer durch den tasmanischen Dschungel verdingt, nutzt unverholen beim Schildern ihres gemeinsamen Wegs durch den dicht bewachsenen Busch Elemente des Exploitation-Kinos um das grausame Schicksal auch visuell durchgängige Härte zu verleihen. Der ständige Missbrauch Hawkins an Clare kulminiert im nächtlichen Besuch des Offiziers und seiner Gefolgschaft in der Hütte von Clares kleiner Familie. Dem voraus ging ein Besuch ihres Ehemanns Aidan bei Hawkins, der diesen wegen dessen ständiger Übergriffe auf seine Frau zur Rede stellen wollte und die Situation in Handgreiflichkeiten eskalierte.

Die Eskalation in der Hütte erreicht in ihrer Unannehmlichkeit fast das Level der quälend langen Vergewaltigungs-Szene in Meir Zarchis I Spit On Your Grave. Nicht der körperliche, aber der emotionale Schmerz, den Clare hier erfährt, fährt auch dem Zuschauer in die Glieder und ließ den hier erzeugten Schrecken für mich zu einer der unerquicklichsten Film-Erfahrungen der letzten Zeit werden. Nachdem Kents Protagonisten das für diese schlimmstmögliche widerfährt, setzt der Film zu einem quälenden Gang zur Katharsis über, in dem er Clare und Billy aufeinandertreffen lässt. Der Ureinwohner ist für die von Rache getriebene Frau zunächst Mittel zum Zweck. Er soll sie durch den unwirtlichen Busch Tasmaniens und auf die Spur ihres Peinigers führen, welcher mit ihm unterstellten Offizieren auf dem Weg in die nächstgrößere Stadt ist, um dort einen neuen Posten anzutreten. Ungeschönt blickt Kent auf das in den 1820ern vorherrschende Gedankengut und lässt aus dem Opfer Clare offen Vorurteile und rassistischen Dünkel treten. Der Film macht es einem schwer, weiterhin Mitleid mit der jungen Frau zu empfinden, wenn sie, obwohl sie wie ihr Führer ebenfalls in der damaligen Gesellschaft ein Außenseiter ist, offen ihren Rassismus zur Schau stellt. Der Aborigine ist für sie sehr viel weniger Wert als ihr geliebtes Pferd, das sie mit sich führt.

Kilometer um Kilometer nähert sich das zeitgleich gleiche und wiederum ungleiche Paar langsam an und erfährt vom Schicksal des jeweils anderen. Hätte man in der ehemaligen Traumfabrik die Gelegenheit ergriffen und noch eine dezente Love-Story in den Plot geklimpert, verzichtet Kent in ihrer Geschichte auf allzu große Sentimentalitäten. Billy und Clare lernen einander zu verstehen und sich schätzen und manche Blicke, die man sich gegenseitig im schützenden Dunkel einer zweckmäßigen Unterkunft zuwirft, könnten als langsam erwachende, tiefere Zuneigung verstanden werden. In der Zeit, in der The Nightingale spielt, ist für sowas kein Platz. Mehr ist der Film ein Fenster, das seine Regisseurin geöffnet hat und uns zeigt, dass die darin geschilderten Themen bedauernswerter Weise zeitlos sind. Inmitten der verregneten, schmutzigen und verwilderten Umgebung des für paradiesische Postkarten-Motive prädestinierten Tasmaniens kämpfen die beiden Misfits Clare und Billy für ein kleines bisschen Gerechtigkeit und ihren inneren Seelenfrieden. 

Die sich in beiden Protagonisten aufstauende Wut über ihr Schicksal, das einige Parallelen aufweist, ist Motivation für deren weitere Handlungen und roter Faden in Kents Rache-Mär. Anlass dafür bieten Hawkins und seine Untergebenen auf ihrer Reise über das australische Eiland zu Genüge. Manipulation, Misshandlung, Ausbeutung: Kent breitet den Schrecken der Kolonialisierung durch weiße Männer weit vor dem Zuschauer aus, in dem zwei unterschiedliche und doch gleiche Menschen von einem kleinen Stück Freiheit träumen. Eingeengt im Klassendenken der damaligen Gesellschaft manifestiert sich dies im zunächst ungewöhnlich erscheinenden Bildformat von 1,37:1. Das vermeintlich weite Land des fünften Kontinents verkommt dadurch zur beengenden Hölle, welche mit ihren Schrecken die Hauptfiguren des Films aneinanderschweißt. The Nightingale verkommt hierbei nie zum bloßen Historien-Rape and Revenge-Film, der nicht als bloße Verfilmung einer Hass-Schrift über die Schreckensherrschaft der Gründungsväter einer gemessen an den Abstammungen eigentlich bunten und vielfältigen Nation ist. Mehr ist der Film ein aufwühlendes und mitreißendes Kammerspiel inmitten einer beengten Welt, die in ihrem einfachen Schwarz-Weiß-Denken keine Abstufungen und Offenheit zuließ. Intensiv gespielt und umgesetzt ist Kents Film ein in seiner Tonalität grobes Drama, das mit einem Fuß im Genre-Kino für Standfestigkeit sorgt und für mich ein erstes größeres Ausrufezeichen des Filmjahrs ist.

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Samstag, 11. Juli 2020

Skin

Die Wut des rechten Randes auf Flüchtlinge oder Menschen mit Migrationshintergrund, Angst vor dem Verlust der nationalen Identität des Staates und völkisches Denken, von Populisten wie Orban, Trump oder Parteien wie der AfD weit in die Gesellschaft gestreut, verursacht in mir - vom politischen linken Rand, in dem ich mich und meine politische Meinungen verorte, aus beobachtet - selbst eine unbändige Wut auf solche Menschen und ihr Gedankengut. Eigentlich wird diese auch von fiktiven Stoffen entfacht. Umso erstaunter war ich, als Guy Nattivs Skin keine größeren emotionalen Regungen in mir verursachte. Der Film über Bryon Widner, der seine Gesinnung über viele Jahre für alle gut sichtbar durch dutzende von Tattoos auf seiner Haut trug und dessen Weg aus der US-amerikanischen rechtsradikalen Szene schildert, wird ein Opfer seines Anspruchs, diese Zeit seines Lebens vielschichtig zeigen zu wollen. 

Der aus zerrütteten Verhältnissen stammende Amerikaner lebte viele Jahre in verschiedenen Organisationen der White Supremacy-Bewegung. Das jahrelange Mitglied des Vinland Social Club lernt 2005 auf einem "White Power"-Festival seine spätere Frau Julie kennen, die drei Kinder aus einer früheren Beziehung mit in die Partnerschaft bringt. Beide hinterfragen ihre Gesinnung, als Julie von Bryon ein Kind erwartet. Das Paar sagt sich von der Nazi-Zeit los und möchte aussteigen. Die beiden flüchten aus dem US-Bundesstaat Michigan nach Tennessee, doch Widner wird von seiner Vergangenheit eingeholt und von seinen alten Kameraden aufgespürt; hat sich mental jedoch bereits so gefestigt, dass er mit seiner Neonazi-Zeit abschließen möchte. Nach sich endlos lange hinziehenden Vorgesprächen finanziert ihm schließlich eine Bürgerrechtsbewegung die schmerzvolle Entfernung seiner Tattoos und hilft ihm bei der kompletten Lossagung von seinem alten Leben.

Nachdem 2011 die Dokumentation Erasing Hate sich mit Widners Fall befasste und diesen u. a. bei den insgesamt eineinhalb Jahre andauernden Entfernungen seiner Tattoos begleitete, erblickte 2018 mit Skin ein Spielfilm das Licht der Kinowelt, welcher sich mit Widners Weg aus der Nazi-Subkultur der USA beschäftigt. Neben seinem Wirken im Kommunen-artig aufgebauten Vinland Social Club beleuchtet der Film eingehend Widners Begegnung mit seiner späteren Frau und ihre Anfangs schwierige Beziehung. Der seit Jugendjahren von seinen Nazi-Zieheltern auf Hass gedrillte und emotional ausgehöhlte Mann muss sich fühlbar damit zurechtfinden, dass es außerhalb der ultraweißen Blase, in der er sich befindet, eine differenzierte Welt fernab von eindimensionalem Schwarzweiß-Denken gibt. Der Dramatik filmischer Narration geschuldet, ändert Skin einige der oben beschriebenen Details, ohne dabei die Geschichte des Aussteigers zu radikal umzuformen. Mit kühlem Ton wird diese vom israelischen Autor und Regisseur Guy Nattiv erzählt, der seinen Fokus häufiger auf die inneren Mechanismen des Clubs legt und im Kontrast dazu das Erwecken von Bryons warmherziger, menschlicher Seite im Beisammensein mit Julie gegenüber stellt.

Die beeindruckende und starke Performance von Jamie Bell als Widner kommt nicht gegen den entstehenden Eindruck an, dass Nattiv manchmal das Interesse an seiner Hauptfigur verliert. Die Biographie wandelt sich vom Sozial- zum zurückhaltenden Beziehungsdrama und wieder zurück; Bell steht dabei meist mit seiner großartig erzeugten Präsenz sichtbar im Bild und ist trotzdem häufiger nicht das zentrale Element in Nattivs Erzählung. Mehr entwickelt er sich als antreibendes Zahnrad im Gefüge der Geschichte, um diese letztendlich in die vorgesehenen Richtungen zu treiben. Weiter greift Nattivs Distanz zu den beiden Hauptfiguren auf den Zuschauer über; zusammen mit meiner persönlichen politischen Einstellung konnte ich mich nicht auf diese zugegeben schwache emotionale Ebene, die Skin besitzt, begeben. 

Bedauerlich, da der Film in allen Belangen auf einem hohen Niveau agiert und sein Blick auf einen Teil des rechten Rands der US-Gesellschaft durchaus interessant ist. Leider verspielt er mit seinem unterkühlten Ton, dass der Zuschauer Widners Prozess des Ausstiegs mitfühlt und ihm nahe geht. Seine unangenehme Persönlichkeit jener Tage führt dazu, dass man in der fiktiven Aufarbeitung seiner Geschichte auf persönlicher, emotionaler Ebene zu Vorsicht tendiert und man sich ihm nie wirklich nähern will, bis zum Ende in Texttafeln sein Werdegang nach dem erfolgreichen Ausstieg geschildert wird. Richtig Nahe kommt man ihm nur dann, wenn in kurzen Zwischenspielen die schmerzhafte Entfernung mittels Lasertechnik von Widners Tattoos in Großaufnahmen gezeigt wird. Selbst da tut das allerdings wenig weh, was ein Film wie Skin Aufgrund seiner Thematik bis zu einem gewissen Punkt schon tun sollte.
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Montag, 29. Juni 2020

Engel mit schmutzigen Flügeln

Während unseres Lebens befinden wir uns auf vielen, unterschiedlichen Reisen. Egal, ob wir unsere Körper beispielsweise im Urlaub von A nach B transportieren und fremde Plätze und Länder erkunden oder auf persönlicher, charakterlicher Ebene: wir sind ständig on tour. Das Trio Gabriela, Michaela und Lucy ist dies mit seinen fahrbaren Untersätzen ebenfalls. Die Engel im Exil sind unentwegt unterwegs und weder Felder, Straßen, Autobahnen oder leere Kasernen sind vor ihnen sicher. Regisseur Roland Reber scheint entweder einen außerordentlichen Motorrad-Fimmel zu haben oder möchte mit den ersten Minuten seines Films durch ausgedehnte Szenen seiner Hauptdarstellerinnen auf den Zwei- und Vierrädern deren Fahrzeuge als mechanisches Symbol der Freiheit seiner Figuren dem Zuschauer penetrant unter die Nase reiben. Dazwischen sitzen sie rastend in Landschaften, blicken bedeutungsschwanger in die Ferne und lassen theatralisch gestelzte Sätze von sich. Bevor sich Lucy ebenfalls vollwertig zu einem Engel zählen darf, bekommt sie von ihren Begleiterinnen eine Aufgabe gestellt.

Diese lautet "Sei was du bist, erst dann bist du eine von uns". Die promiskuitive Lucy wird genaustens unter die Lupe genommen und in die Mangel genommen. Das, was der Film ausführlich schildert, verpackt die junge Frau in Ausreden sich selbst gegenüber. Die häufig wechselnden Liebhaber werden mit Verliebtheit schön geredet; was sie laut ihren Tagebüchern und Erlebnissen innerhalb der fortschreitenden Handlung diesen Männern offenbart, sind nichts weiter als leere, austauschbare Worte, mit denen sie sich selbst belügt. Mutet Engel mit schmutzigen Flügeln bis dahin wie ein existenzialistisches Drama mit dazu irritierenden, sterilen TV-Film-Look an, packt Reber manch offenherzige Sex-Szenen in sein Werk, dass Lucys Selbstfindung sexploitative Züge annimmt. Frei nach Descartes stellt sie dazu passend früh fest: Ich ficke, also bin ich. Während Gabriela und Michaela in überdrehten Possen das Verhalten Lucys kommentieren, sie still beim Ausleben ihrer Sexualität beobachten oder alle drei zusammen ausgelassen umhertanzen und im Kinderlied-Stil feststellen, dass die schöne Rothaarige bis auf sich selbst alles andere auf dieser Welt zu kennen scheint.

Ins rechte Licht rückt Reber dabei seine Lucy-Darstellerin und Lebensgefährtin Antje Mönning, die in der ARD-Soap Um Himmels Willen als Nonne bei einem breiteren wie betagteren Publikum bekannt wurde und mit ihrem Mitwirken in dem 2009 entstandenen Film einen kleinen Skandal im Boulevard heraufbeschwor. Wie einst Jess (Franco) bei seiner Lina (Romay) saugt die Kamera als verlängertes Auge Rebers die natürliche Schönheit von Mönning förmlich auf und lässt uns Zuschauer an ihrer Nacktheit so häufig wie nur möglich oder unmöglich teilhaben. Halbnackt auf dem Quad, beim Sex am Baggersee, als Stripperin mit Dildo-Einzelshow vor maximal tumb dreinblickenden Publikum: Reber zelebriert seine Darstellerin, die zur Muse seiner filmischen Phantasie heranwächst. Interessanterweise funktioniert Engel mit schmutzigen Flügeln am Besten, wenn er Lucys Liebesleben in den Mittelpunkt stellt. Die Szene am See mit dem Fremden erhält durch die während des gesamten Akts aus nächster Nähe filmenden Kamera eine hübsche Intimität. Die aufgesetzt wirkende Prämisse des Films löst sich in diesen Szenen weitgehend auf.

Einen Kontrast zur von Film verfolgten Reflexion über das Moralempfinden des Einzelnen stellen sie in jeder Minute trotzdem dar. Engel mit schmutzigen Flügeln wirkt über weite Strecken, als wolle Reber mit den tiefgründig gemeinten Momenten dazwischen den erdachten Ferkelkram entschuldigen und diesem damit eine Existenzberechtigung sichern. Der vom Theater stammende Regisseur inszeniert seinen Stoff steif (no pun intended) und unauthentisch. Wieder muss ich mit Franco vergleichen: während der Spanier einer inneren Lust um des reinen Filmens wegen folgte und in seinen teils schlicht ausgestalteten Geschichten Stimmungen wirken ließ, fehlt es dem Film, betrachtet man dessen Thematik, an Leidenschaft. Den ausladenden Sexploitation-Szenerien steht eine miefige Verkopftheit gegenüber, die viele dem deutschen Cinema d'Auteur als negative Eigenschaft anlasten und sich hier bestätigt fühlt. Zumal man philosophische Großleistungen wie "Ohne Liebe sind wir nur leere Hüllen in einer leeren Welt" oder "Wer gefallen will, ist schon gefallen" eher als schwülstige Sprüche-Bilder bei Facebook vermutet. Bis auf einen stetig ansteigenden Fremdscham-Faktor und gefälligen wie offenherzigen Erotik-Szenen bietet Rebers Werk wenig bemerkenswertes. Der spirituell-religiöse Überbau der Geschichte über die Befreiung und das Erkennen des eigenen Ichs und der Beschau des Begriffts Moral schwankt unkoordiniert zwischen seinen beiden Extremen hin und her. Seine Unzulänglichkeiten wirken wie der viel zitierte Unfall, bei dem man wegschauen möchte, aber nicht kann... und froh ist, wenn er am Ende angelangt ist. Autoren-Trash, bei dem Penis und Kopf gleichzeitig das Denken übernehmen; sich "viel traut" und nur geringfügig durch sein seltsames Gesamtbild geringfügig Aufmerksamkeit erlangen kann und nur für Stirnrunzeln oder Kopfschütteln sorgt.
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Samstag, 13. Juni 2020

Midsommar

Allzu leicht könnte man Ari Asters aktuellen Film Midsommar als bloßen Mindfuck abstempeln, der wie die Bewohner der Kommune, in die es die Protagonisten verschlägt, diese wie uns Zuschauer mit ihren archaischen Traditionen und Riten auf vielen Ebenen nur verstören möchte. Doch das Kino des schnell hoch gehandelten Regie- und Genre-Wunderkinds ist weit mehr, als mit Symbolismus aufgeladene, interpretationsreiche Bilderfluten. Wie in seinem Langfilmdebüt Hereditary behandelt Aster Verlust als zentrales Thema. Ist es dort noch der Tod eines Familienmitglieds, der Anlass für die folgenden Schrecken ist, behandelt er in seinem zweiten Werk das Ende der bereits elendig lange dahinsiechenden Beziehung der Studenten Dani und Chris. Wieder ist es ein schwerer Schicksalsschlag, den die weibliche Hauptfigur zu verkraften hat; dadurch noch mehr als ohnehin mental angeschlagen, bringt sie ihre kriselnde Partnerschaft zu Chris einen Schritt weiter Richtung Abgrund. Dieser lädt seine Freundin nur aus Höflichkeit dazu ein, ihn und seine Studienfreunde Pelle, Josh und Marc auf eine Reise nach Schweden zu einer großfamilienähnlichen Kommune, in der Pelle einen Teil seines Lebens verbrachte, zu begleiten.

Entgegen Chris' Annahme, dass sie ausschlägt, sagt Dani zu. In Schweden angekommen, treffen sie rechtzeitig zu den Feierlichkeiten zur Mittsommerwende in der Kommune ein. Das auf einige Tage ausgedehnte Fest wird durch das immer bizarrere Verhalten der dortigen Bewohner und seltsam wie grausam anmutende Rituale eine harte Prüfung für die Studenten. Als einige geschockt von den dortigen Bräuchen mit dem Gedanken spielen, vorzeitig abzureißen, ahnen sie noch nicht im geringsten, wie sehr sie in den Planungen der Kommunenmitglieder für das Fest eingeplant sind. Weitgehend löst sich Aster mit seinem Script, das er seiner Aussage nach schrieb, um das Ende einer eigenen Beziehung zu verarbeiten, von gängigen Konventionen des Horrorfilms. Packte er seinen Hereditary noch häufig in Dunkelheit und düstere Bilder, wird Midsommar von hellen, leuchtenden Farben bestimmt. Lässt er seine Figuren zunächst mit der zu dieser Jahreszeit nie untergehen wollenden Sonne hadern, konfrontiert er sein Publikum gleichzeitig mit dem Umstand, dass das Grauen nicht im Dunkel lauert und man sich gedanklich nicht davor in visuelle Schattengebilde gängiger Horrorfilme retten kann. The Sun Always Shines On TV.

Aster festigt sich mit Midsommar als scharfer Beobachter, der sich gewollt gegen die hastigen Erzählstrukturen des Mainstream-Horrors stellt und sich beim Aufbau seines Szenarios und der Ausgestaltung der Charaktere Zeit lässt. Nachdem er die emotionale Spannung des Stoffs bereits Eingangs mit der Darstellung des Dani betreffenden Unglücks eindringlich zu einem ersten Höhepunkt führt, lässt er den Horror lange außen vor. Szenen, in denen er auch durch geschickte Bildkompositionen die Distanz zwischen seinen beiden Protagonisten darstellt, überwiegen und lassen den Zuschauer in die zerklüftete Partnerschaft der beiden eintauchen. Nüchtern, ohne störende Rührseligkeiten schaut Aster auf zwei Menschen, die über immer weiter auseinander reißenden Klüfte krampfig aneinander festhalten und nicht merken oder wahr haben wollen, wie man dem Partner immer mehr entgleitet. Dani steckt in ihrer selbst geschaffenen Abhängigkeit fest, die Chris in ein Pflichtbewusstsein ihr gegenüber drängt, das eine ungesunde Einseitigkeit besitzt. Er steckt in der Rolle der Stütze der Beziehung und Wächter über ihre mentale Gesundheit fest, anstelle sich komplett aufrichtig bzw. fürsorglich um sie zu kümmern. 

Die Magie der Liebe scheint lange versiegt zu sein. Dani und Chris müssen bis zur eigenen Erkenntnis, der völligen Wahrnehmung und Akzeptanz des Endes zunächst ein Martyrium durchgehen. Die fremd wirkenden Bräuche der Kommune, die ihre Freunde und sie selbst schockieren und emotional stark mitnehmen, stellen verschiedene Stufen der innerlichen Reinigung Danis und des konkreten Endes der Beziehung dar. Die in der Beziehung längst entzündete Wunde muss zunächst Schmerzen wie der Schock über die für ihre Gastgeber so normal erscheinenden Bräuche. Bis alles wieder vergeht, muss es nochmal richtig weh tun, brennen und unangenehm sein. So unbehaglich, wie sich auch die Stimmung des Films entwickelt, die Aster den Zuschauer in jeder weiteren Szene in der Kommune spüren lässt. Sein Horror ist eher das gemeinsame Erleben mit den Figuren, der kollektive Schock über die Grausamkeiten der von den Bewohnern der Kommune verübten Rituale. Die heidnischen Bräuche treffen uns christianisierte, aufgeklärten Menschen alleine schon durch ihre Fremdartigkeit. Bis auf zwei grafisch sehr explizite und äußerst wirksame Szenen verzichtet Midsommar auf den im Horror sonst meist exzessiv genutzten roten Lebenssaft. 

Neben dem Verlust eines Menschen, für den man tiefgreifende Gefühle empfand, die sich immer weiter auflösen, lässt uns der Regisseur auch die Absenz von ursprünglichem, urwüchsigem Denken und Fühlen in unser Bewusstsein treten. Aster spielt mit unserer Christianisierung und deren Verdrängung alter, monotheistischer Glaubenskonstrukte. Was barbarisch für den einen scheint, empfindet ein anderer in seinem Lebensbewusst als vollkommen üblich. Was normal ist, liegt im Auge des Betrachters. Fast schon bedauerlich, dass Midsommar bei seiner Vielschichtigkeit mitunter in gängige Horrorschemata verfällt. Dies fängt bei schwachen Nebenfiguren wie Marc an, der der übliche nervige, notgeile wie dezent tumbe Auffällige ist, der zumindest mir schnell auf die Nerven ging, und hört bei zwar nur angedeuteten und nie vollständig ausformulierten Szenen auf. Sie stehen im Kontrast zum komplexen Rest der Geschichte; zu simpel und vorhersehbar formt sich ein Verdacht im Kopf des Zuschauers, der sich später bewahrheitet. Es raubt ihm seine unvergleichliche Charakteristik und oppositionelle Haltung gegenüber normaler Genreware. Am ehesten kommt einem bei Midsommar als grober Vergleich The Wicker Man in den Sinn.

Scheinbar der Einzigartigkeit seines Stoffs voll und ganz bewusst, bewahrt Aster die Einzigartigkeit des Films. Wie die weiblichen Bewohner beim Tanz auf dem Höhepunkt des Fests, strauchelt er in wenigen Momenten um in seiner Gesamtheit im Glanz seiner gleißenden Schönheit zu stehen. Eigentlich ködert Aster das Publikum mit der altbekannten und doch die Neugier anheizenden Faszination des Fremdartigen, um dies wie die Figuren des Films mit der geschaffenen, parallel zu unserer konservativ erscheinenden Gesellschaft existierenden Welt zu ängstigen. Die stetig anhaltende, unangenehme Atmosphäre und Asters feines Gespür für präzise wie nüchtern erzählte Dramen, die eins werden mit dem naturalistischen Horror des Films machen Midsommar zu einem feinen Genre-Erlebnis, dem man die plumpen Momente verzeiht. Die weitgehend durchweg positiven Stimmen nach seinem Kinostart kann ich voll und ganz nachvollziehen, selbst wenn ich mich nicht komplett vom Begeisterungssturm mitreißen lasse. Stehende Ovationen und lang anhaltenden Applaus erhält er aber auch von mir. Ist er doch allein schon mit seiner Laufzeit von knapp zweieinhalb (Kino-Fassung) bzw. drei (Director's Cut) Stunden Laufzeit und dem sich bewussten Zeit nehmen für sein Sujet, seine Figuren und seinen Absichten dem Zuschauer gegenüber ein schöner Gegenentwurf zum in Laufzeitschablonen gepressten Genre-Standard. 
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Montag, 10. Februar 2020

Der Leuchtturm

Now Fiddler's Green is a place I've heard tell, where the fishermen go when they don't go to hell. In einer Szene spricht Leuchtturmwärter Thomas Wake Fiddler's Green, ein Paradies, die Vorstellung des Lebens nach dem Tod in der maritimen Folklore des 19. Jahrhunderts, gegenüber seinem Gehilfen Ephraim Winslow an, als für beide Männer längst die Hölle losgebrochen ist. Ein Boot brachte die beiden Männer auf die kleine, karge Insel, welche für die nächsten vier Wochen zu deren Lebensort werden soll, um den darauf befindlichen Leuchtturm und die dazu gehörigen, langsam verfallenden Gebäude zu warten und instand zu halten. Arbeit findet sich zuhauf: der ältere Wake übergibt dem frisch angeheuerten Winslow viele der Tätigkeiten, während er einer Motte gleich um das magisch anmutende Licht des Leuchtturms schwirrt und sich ausschließlich um dieses kümmert. Letzterer beruft sich auf die Vorschriften, besteht auf das vorgeschriebene Abwechseln bei der Wache und anderen Beschäftigungen und bricht das Tor zur persönlichen Hölle beider so unterschiedlichen Menschen auf.

Der Wahnsinn ist nur eine schmale Brücke, die unter den Egos der Männer zusammenbricht. Ihre Charaktere prallen aneinander und zerschellen kontinuierlich an den scharfkantigen Felsen ihrer Persönlichkeiten, für die das kleine Eiland sinnbildlich zu stehen scheint. Einsamkeit, Tristesse, das alles durchdringende Dröhnen des Nebelhorns und der Maschinen, billiger Fusel und zwei komplett unterschiedliche Wesen greifen nach den Männern wie unsichtbare Klauen schwarzer Monstren, die in ihrem innersten wohnen. Im Wachzustand ereilen Ephraim Nachtmahre, Einbildung und Realität verschwimmen und die Vergangenheit rollt aus den hintersten Winkeln im Kopf des jungen Mannes zurück in die Gegenwart. Er und Thomas werden zu Duellisten, deren Waffen Worte, hemmungsloser Irrsinn und Destruktion sind. Der Horror in Robert Eggers zweitem Spielfilm Der Leuchtturm ist kein greifbares Abstrakt, dargestellt als Monstrum oder ähnlichem. Mehr ist es blanker Wahnsinn, der von der ersten Minute an eine unheilvolle Stimmung gebiert.

Mit der Essenz Lovecrafts im Geiste kreiert Eggers, der das Script zusammen mit seinem Bruder Max verfasste, einen Film, der schier explodiert und dessen Detonationswellen den Zuschauer mitreißt. In die Tiefe seiner beiden Figuren; Wake, der als alter Seebär die Farce eines Seemanns damaliger Zeit ist, vom Alkohol berauscht viel Seemannsgarn spinnt und seine Machtposition seinem Gehilfen gegenüber lustvoll ausspielt. Wake selbst ist ein anfangs wortkarger Eigenbrötler, distanziert zu seinem Kollegen, der widerwillig dessen Befehlen folge leistet und versucht, mit den offiziellen Vorschriften zu kontern. Das etwas nicht mit ihm stimmen mag, lässt sich schnell erahnen. Bis Eggers Winslow in ein anderes Licht rückt, lässt er seine beiden Schauspieler Willem Dafoe und Robert Pattinson, die beide auf Augenhöhe agieren und großartig ihre jeweiligen Figuren zum Leben erwecken, aufeinanderprallen wie Schiffe an steilen Klippen und Felsen, die ohne Leuchtfeuer eines titelgebenden Leuchtturms auf offener See navigieren müssen. Die Derbheit, mit der das alles geschieht, mag zuerst kurzzeitig irritieren.

Eggers orientierte sich hierbei an den Erzählungen von Herman Melville und Logbüchern echter Leuchtturmwärter; die Subtilität seines Vorgängerfilms The Witch (hier besprochen) sucht man vergeblich. Thematisch sind sich beide Filme nicht unähnlich: Eggers erschafft ein Szenario von Isolation, in dem sich Paranoia auf deren feuchten und ertragreichen Boden einem Schimmelpilz gleich schnell ausbreitet. Die Doppeldeutigkeiten, interpretationsreichen Momente, die man in The Witch findet, lässt Eggers in Der Leuchtturm zugunsten von emotionalen Eskalationen fallen und paart sie mit albtraumhaften Visionen. Der maritime Horror, der sich ebenfalls in Lovecrafts Werk wiederfindet, manifestiert sich in Meerjungfrauen, mit denen ekstatisch körperliche Liebe zelebriert wird oder Tentakeln, bei denen man entfernt an die großen alten Monstrositäten aus dem Cthulhu-Mythos denken könnte. Ohne jemals zu direkten Bezug darauf zu nehmen, tauchen innerhalb der charakterlichen Duelle zwischen den beiden Männern Sequenzen auf, die eine Brücke zu bekannten Symbolen aus dessen Werk schlagen. Mysteriös und alptraumhaft, ohne die beiden Figuren faul in einen fischigen Orkus voller Tentakelmonster zu schicken.

Eggers überlässt es dem Zuschauer und seiner Fantasie, dessen Interpretierung, ob auf der Insel andere, inhumane Mächte wirken oder die karge Beschaffenheit und die beengten Verhältnisse des Aufenthaltsorts die Psyche beider Männer angreift. Inszenierte er The Witch mehr handlungsgetrieben und kontrolliert, filmt sich der Amerikaner in einen Rausch, in den er den Zuschauer mitnimmt. Man könnte Der Leuchtturm mit Leichtigkeit überbordend, überfrachtet nennen; ein interpretationsreicher Film zwischen düsterer Folklore, prometheusscher Sage, psychologisch fein gezeichnetem Horrordrama und Lovecraft'schem Abstieg in stetigem Wahnsinn. Eggers legt in seiner Geschichte Fährten aus, die er den Zuschauer lesen lässt. Das gewählte Bildformat von 1,19:1, das schwarzweiße Bild, die detailversessene Ausstattung des Films lässt ihn wie ein Relikt aus vergangenen Jahrzehnten wirken, in das der Regisseur trostlose Ausweglosigkeit im beengten Handlungsort seiner Erzählung und karge Schönheit - wenn Dafoe und Pattinson in einer Einstellung für einen Moment nebeneinander still stehen wirkt dies wie eine uralte Fotografie aus dem letzten Jahrhundert, dass diese vergangene Zeit mit seiner Stimmung zurückzubringen vermag - mischt.

Als Zuschauer folgt man den beiden Männern in die Umnachtung, schlingert im Wahnwitz der Geschichte und schwankt auf deren lauten wogen. Mag Der Leuchtturm selbst nur ein Sinnbild für die innere Zerrissenheit einer der beiden Figuren stehen, hervorgerufen durch ein dunkles Geheimnis in deren Vergangenheit, so hat Robert Eggers nichts weiter als einen Geniestreich hingelegt. Der dröhnende Klang des Nebelhorns, die lauten Maschinentöne, der disonante Soundtrack; monochrome Bilder, mit Linsen aus den glorreichen Tagen eines Murnaus oder Langs gefilmt, die das Seelenleben der beiden dargestellten Männer nach außen tragen und das wenige Land um den Leuchtturm zu einer maritimen Hölle werden lässt; zwei Herren, die sich gegenseitig alles abverlangen, Machtverhältnisse ausloten, sich anschreien, schlagen, rangeln und um dann - plötzlich - eine ungeahnte Zärtlichkeit für wenige Sekunden zulassen und ihre Hassliebe aufs äußerste treiben. The Lighthouse beeindruckt auf allen Ebenen und hallt im Kopf nach wie das Geschrei der Möwen, die über die felsige Insel kreisen. Am Ende überlässt es Eggers einem, wie man die Geschichte sehen möchte und ob man dabei in das Licht der Erkenntnis blickt und seinen tiefschwarzen Kern wie das eigene Innere ergründet. Bis ich selbst meine eigene Sicht und Interpretation gefestigt habe, bleibt am Ende im sich lichtenden Nebel der Beurteilung ein Wort für den Film zurück: outstanding.
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