Das Review enthält Spoiler!
Vollkommen verschmutzt, verstört und verletzt findet man die kleine Lucie, welche als vermisst galt. Während sie in einem Kinderheim langsam wieder zu sich selbst findet und sich mit Anna anfreundet, versucht die Polizei herauszufinden, was Lucie widerfahren ist, da sie selbst nicht über ihre Erlebnisse sprechen will oder sich daran nicht erinnern kann. Fakten gibt es wenige: das Mädchen wurde in einem verlassenen Schlachthof auf einem Stuhl gekettet festgehalten und stetig durch Gewaltanwendung misshandelt. Von den Tätern fehlt jede Spur. Nach fünfzehn Jahren sind Lucie und Anna zu junge Frauen herangewachsen. Dabei scheint sich Lucie an ihre Peiniger nun etwas erinnern zu können. Durch einen Zeitungsbericht aufmerksam geworden, macht sich das Duo auf den Weg zu den vermeintlichen Tätern, damit sich Lucie an diesen Rächen will. Dies wird dabei der Beginn einer unglaublichen Leidensgeschichte für die beiden Frauen.
Es geht ein Ruck durch das französische Kino der jüngeren Zeit. Bis vor einigen Jahren war Frankreich für den Fan des phantastischen Films eher nicht so sehr präsent wie nun. Es gab zwar einen Jean Rollin mit seinen erotischen und surrealen Vampirgeschichten, doch seine eigenwilligen Filme - selbst seine zwei kommerziell erfrolgreichsten und bekanntesten Werke heben sich vom Gros des Splatterfilms der damaligen Zeit ab - waren und sind nicht Jedermanns Sache. Dabei schuf George Franju schon 1959 mit Das Schreckenshaus des Dr. Rasanoff einen unsterblichen Klassiker des Horrorkinos. Nur vereinzelt wurden danach einige Genreproduktionen hergestellt, da sich schon zu dieser Zeit eine ganz andere Welle Frankreich für Filmfans interessant machte: die Nouvelle Vague mit jungen und frischen Regisseuren wie Claude Chabrol, Francois Truffaut, Jean-Luc Godard oder auch Louis Malle sollte das Bild des französischen Films über Jahre prägen.
In Anlehnung an diese wunderbare Filmgattung nennt man den Schwung des harten und brachialen Horrorkinos aus Frankreich, das Alexandre Aja mit seinem filmischen Bolzenschussgerät High Tension begründete, daher auch Nouvelle Vague Extreme. Seitdem scheint man in Frankreich bemüht zu sein, innerhalb eines Films all das nachholen zu wollen, was man seit gut dreißig Jahren Splatterfilm verpaßt hat. High Tension ließ vor allem das Internetpublikum nicht mehr los und dieses musste nicht lange auf neuen Stoff warten. Im Jahre 2007 erblickten zwei heißdiskutierte, gefeierte aber auch verrissene Filme das Licht der Welt. Xavier Géns schuf mit Frontiére(s) einen harten, dreckigen Horrorthriller der schnell High Tension in seinen Schatten stellte. Der andere ist der überbrutale Psychothriller Inside, ein kaltschnäuziges Kammerspiel-Duell zweier Frauen, die den Bildschirm mit einer Leichtigkeit in (Kunst-)Blut ertränken. Höher, schneller, weiter und vor allem derber hieß es da im Fernduell und vor allem Inside konnte mit seinem kontroversen Ende selbst so manchen abgebrühten, langjährigen Fan aus seiner Lethargie reißen. Dem steht nun Martyrs, der zweite Film von Pascal Laugier, gegenüber. Auch dieser scheint versuchen zu wollen, den inoffiziellen Titel des "härtesten Films aller Zeiten" an sich zu reißen.
Und man muss sagen, daß er zwar vor allem im Vergleich mit Inside nicht so viele Liter Kunstblut vergießt, aber allein schon durch das gesamte Story- und Ideengerüst durchaus zu bestechen weiß. Er wurde schon letztes Jahr auf dem Fantasy Film Fest ein von den Fans sehr kontrovers aufgenommener Film, wobei sich die Diskussion um das Werk in diversen Internetforen hochschaukelte und - eben nach High Tension, Frontiére(s) und Inside - der nächste große Internethype entstand. Seit dem der Film Saw zu einem Überraschungshit wurde und damit äußerst heftige Gewalterruptionen auch auf der großen Leinwand für das Mainstreampublikum salonfähig machte, ist zu beobachten, daß, je mehr Liter Kunstblut in einer Produktion vergossen wird, vor allem die Internetgemeinde in wahre Jubelstürme ausbricht und vom "nächsten großen Ding" spricht. Schnell muss man allerdings als nüchterner aber immer noch begeisterter Genrefan das Sprichwort heranziehen, daß nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Doch bei Martyrs kommt man schnell in einen Zwiespalt.
Ohne jede Frage ist der Produktionsstandard sehr hoch angesiedelt und Laugier beweißt, das in ihm durchaus Talent schlummert, welches er auch hier schon angewendet hat. Gerade der stimmige und geheimnisvoll aufgebaute Beginn, schon mit einigen kleinen Schocks versehen, macht Lust auf mehr und nach der Titeleinblendung setzt er auch schon zum ersten Schlag an. Aus einer zuerst bedrohlich wirkenden Situation, in der ein junges Mädchen mit einem Schlafanzug bekleidet durch ein Haus hetzt, mit panischem Blick und schreiend noch dazu, wird schnell eine sehr harmlose Situation. Ihr Bruder jagt ihr hinterher, da sie in seinen Privatdingen schnüffelte und einen Liebesbrief der Freundin gelesen hat. Nun ist dies eine in sehr vielen Horrorfilmen angewandte Methode, eine gewisse Situation für einige Momente angespannt darzustellen, die Spannungsschraube anzudrehen nur um dann den Zuschauer auf eine falsche Fährte zu locken. Doch gerade danach schafft er es mit schnellen Einstellungen eine vertraute Atmosphäre der Ruhe zu schaffen, eine gewisse Heimeligkeit und Geborgenheit, in der man nichts böses vermutet.
Dann klingelt es jedoch an der Tür und Laugier läßt die urplötzliche Gewalt derartig explodieren und ohne Vorwarnung auf den Zuschauer zukommen, das einen durch seine Wirkung an das japanische Drama Kichiku erinnern läßt. In harten und realistischen Bildern zeichnet Laugier nun ein verstörendes Bild einer geschundenen Seele, welches nur nach Erlösung sucht. Und auch wenn sowohl Morjana Alaoui als Anna und vor allem Myléne Jampanoī als Lucie ihre Sache mehr als gut machen, gerade Jampanoīs Spiel ist durchaus als faszinierend zu bezeichnen, hier schleichen sich schon kleine Defizite in das Gefüge der Geschichte ein. Anstatt den weiteren Erzählstrang etwas langsamer zu inszenieren, bleibt es temporeich und gerade durch die kleineren Rückblenden, die den Missbrauch von Lucie als Kind darstellen, wird hier immer wieder die durchaus stimmige Atmosphäre gestört. Hinzu kommen die Haluzinationen bzw. Wahnvorstellungen Lucies, die nicht wirklich in das Bild passen wollen. Auch wenn ihre imaginäre Verfolgerin mehr als nur ansehnlich dargestellt wurde - die Effektmacher haben hier ganze Arbeit geleistet - so mag es zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich passen. Zu frontal und direkt ist hier Laugiers Inszenierungsstil, anstatt mit einigen Andeutungen zu punken. So wird eine gewisse Spannung genommen und der Fehler gemacht, dem ansonst so realistisch dargestellten Film einen gewissen Touch des Übersinnlichen zu geben. Bevor das Drehbuch doch recht zügig die wahre Herkunft von Lucies Verfolgerin aufklärt, bleibt immer auch noch der vage Verdacht, es könne sich um eine Art Geist oder Dämon handeln. Ein Punkt, der so nicht fruchten will.
Wie der TGV heizt man daher nun durch eine Geschichte, die die Stimmigkeit des Anfangs nicht mehr erreichen will. Fahrig und gehetzt scheint diese aufs Papier gebracht worden zu sein und genauso verfährt auch der Mann auf dem Regiestuhl. Er kann das Interesse des Zuschauers am Film zwar weiter halten, doch hat sich hier schon eine gewisse Distanziertheit zu Martyrs eingeschlichen. Es wird versäumt, den Protagonistinnen mehr Tiefe zu verleihen und so berührt einen selbst das Schicksal der gebeutelten Lucie nicht zu den wohl beabsichtigten vollen hundert Prozent. Lucie ist die zugleich faszinierende und abstoßende Irre, von der man seinen Blick nicht wenden kann während Anna eine hin- und hergerissene Person ist, die sich zwischen ihrer Liebe zu Lucie und ihren moralischen Standpunkten nicht entscheiden kann. Es wird angekratzt, angedeutet, aber nicht vertieft. Für tiefgehende, ergreifende und subtile Momente ist in Martyrs kein Platz. Laugier möchte lieber schocken. Und das auf Teufel komm raus. Und mit Methoden, die zwar in der Theorie sich gut anhören, aber praktisch nur die halbe Wirkung erziehen. Der erste Twist, der plötzliche Tod der eigentlichen Hauptperson Lucie, der plötzliche Fokus auf einen anderen Protagonisten, das hatte schon Hitchcock in Psycho zelebriert. Und hat hier die Wirkung besser hinbekommen. Während Perkins im Gegensatz zu Leigh für den Zuschauer einen noch recht unbekannten Charakter spielte, so hat man sich bei Martyrs auch schon an Anna gewöhnt, die hinterher in den Fokus der Geschichte gerückt wird.
Hier wir Laugier, der auch das Buch schrieb, zudem von allen guten Geistern verlassen. Die Fragen, ob sich Lucie alles nur eingebildet hat, sie schon zu sehr von ihrem Trauma beherrscht wird und die umgebrachte Familie unschuldige Opfer einer verwirrten Seele wurden, werden durch weit hergeholte, beinahe schon hanebüchene Twists ad acta gelegt. Der geheime Gang im Wohnzimmerschrank (!) offenbart das perverse Geheimnis von Vater und Mutter. In einem sterilen Gang schreitet hier Anna vorsichtig entlang um am Ende das vorzufinden, was der Zuschauer schon durch die aufgezeigte Leidensgeschichte Lucies kennt. Einen Stuhl, einen Raum - alles so hergerichtet wie der Ort, an dem auch Lucie misshandelt wurde. Sie findet sogar eine Frau, schwer gezeichnet durch Folter und Misshandlungen und nimmt sich derer an. Schon hier kommen erste Zweifel am Geisteszustand des Regisseurs und Autors und vor allem an der Glaubwürdigkeit von Martyrs auf. Und wenn dann eine geheim operierende Gesellschaft auf den Plan tritt, die unschuldige Menschen verschleppt und foltert, kommen Asoziationen zu Eli Roths Hostel auf. Reverenzen, die nicht gerade die Besten sind, ist die Hostel-Reihe doch eine eher leidlich spannende Angelegenheit.
So darf man sich an Gewaltdarstellungen gegenüber Anna ergötzen, die beinahe die gesamte letzte halbe Stunde andauern. Anteilnahmslos wird man hier zu einem Voyeur gemacht, der die Brutalitäten, die die junge Frau erleidet, mit anschauen muss. Feingefühl läßt Laugier hier für sich wie ein Fremdwort erscheinen. Und auch wenn die Mischung aus steril wirkender Stimmung und grenzenloser Brutalität in Inside angewandt wird: dort funktioniert sie irgendwie noch besser als in Martyrs, der das Martyrium der Protagonisten allzu sehr in die Länge zieht. Mit Martyrs haben die Franzosen nun auch ihren "Torture-Porn", was ein eigentlich sehr zweifelhafter Begriff ist, der von ahnungslosen und hysterischen Jugendschützern geschaffen wurde. Doch hier ist er in der Tat gut aufgehoben, da sich Martyrs im weiteren Verlauf seiner Handlung auf eine Stufe stellt, die die man schon als überhart bezeichnen kann.
Es ist ein krankes Stück Film das vor allem in der finalen Viertelstunde so ziemlich alles vergessen läßt, was jemals in der Geschichte des (Splatter-)Films stattgefunden hat. Das fiese hierbei ist nun, das man ihm seine durchaus vorhandenen Qualitäten, wie die teils stimmige Atmosphäre, einer sehr guten mimischen Leistungen oder auch einem guten Soundtrack nicht absprechen kann. Martyrs ist vor allem ein Film, der nach seinem Ende noch im Gedächtnis bleiben wird. Ganz gleich, ob es nun durch die weit hergeholte Auflösung oder die unbeschreiblich heftigen Szenen ist. Selbst der abgestumpfteste Gorebauer dürfte hier zusammenzucken. Wäre er einige Jahre früher entstanden, so hätte er eventuell sogar noch einen kleinen Skandal heraufbeschwören können. Doch im Wust der Filme der etwas sehr härteren Gangart, ragt er nur durch seine unheimliche Komprosmisslosigkeit was es angeht, deftige Szenen auf den Bildschirm zu werfen, hinaus.
Er hätte, mit ein wenig mehr Fingerspitzengefühl und Subtilität, den bisherigen Spitzenreiter der Nouvelle Vague Extreme - Frontiére(s) - von seinem Thron stoßen können. Mit Betonung auf das letzte Wort, denn dies gelingt ihm nicht. Vor allem transportiert er eine sehr zweifelhafte Idee der Nahtod-Forschung verbunden mit dem Mythos des Märtyrertums, der dem Film einen Pseudotiefgang implementiert, der so nicht vorhanden ist. Laugier begeht den Weg der pursten Exploitation, ohne Rücksicht auf Verluste, wenn auch mit teils fragwürdigen Mitteln. Das der Film durch den genannten Aspekt der forschenden Gesellschaft eine Botschaft vermitteln - sogar Fragen über die Todesangst des Menschen und sein Verhalten, das Auftauchen des ewigen Schnitter aufzuhalten oder aber auch nur über übertriebene Religiosität - will, ist schlicht und ergreifend falsch und nicht vorhanden. Es ist eher eine bemerkenswert konsequente Abfolge von Schmerz, Pein und Blut. Für den jetzigen Augenblick ist Martyrs ein Werk, über das man sprechen und diskutieren sollte, das in wenigen Jahren allerdings nur noch eine müde, beiläufige Bemerkung wert ist...
...und doch unangenehm aus der vergilbten Erinnerung heraus spricht, wenn man ihn sich nochmal ins Gedächtnis ruft. Unangenehm, das ist ein Wort, das Martyrs wahrlich treffend beschreibt. Es gibt gerade in der heutigen Zeit wenige Filme, die es schaffen, eine gewisse verstörende Wirkung zu haben. Dies schafft Laugier, welcher im übrigen für das geplante Hellraiser-Remake auf dem Regiestuhl platz nehmen soll, in der Tat. Hauruck-Härtner-Kino, Grund für den Begriff Hardcore, erschütternd, krank und vor allem ein Film, für den eine normale Bewertung so nicht möglich ist. Dieser Film liegt einem hinterher irgendwie flau im Magen und ist wahrlich jenseits von gut und böse.
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