Samstag, 2. April 2016

Ich seh, Ich seh

Schicksalsschläge. Sie sind eine harte Prüfung für uns Menschen, die nicht nur eine einzelne Person treffen und diese straucheln lässt. Dieser Wrecking Ball kommt ohne große Vorankündigung und kann auch Grundfesten solcher sicher geglaubten Festungen wie die der Familie einreißen. Der Schicksalsschlag in Ich seh, ich seh wird spät thematisiert, schwebt dafür im Verlauf des Films spürbar im Raum. Er führt dazu, dass dieser Halt innerhalb der Familie nicht mehr gegeben ist. Die Sicherheit dieser kleinen "sozialen Zelle", auf die sicher nicht wenige Menschen setzen, ist in filmischen Kosmos am schwinden; vollends aufgelöst zum Schluss. Dabei verpacken Severin Fiala und Veronika Franz dies nicht als dröges Familiendrama, welches verkopft zu Werke geht. Man geht den Weg des Genrefilms, der den nüchtern-scharfen Blick bzw. Look eines Autorenfilms besitzt.

Fiala und Franz sind dazu zwei Schelme. Ihre Geschichte ist an und für sich leicht zu durchschauen. Die beiden Zwillinge Elias und Lukas haben mit der Veränderung ihrer Mutter zu kämpfen, welche nach einer OP und dem damit verbundenen Krankenhausaufenthalt wieder in das abgelegene Heim zurückkehrt. Das Gesicht tief unter vielen Bandagen verborgen, so stellt sich für die beiden Jungen die Wesensänderung der Mutter offensichtlicher zur Schau. Herrisch und streng gibt sie sich. Die liebevolle Seite der Mutter bekommen die Zwillinge und der Zuschauer nur per Tonaufnahme aus vergangenen Tagen mit. Es kommt die Vermutung auf, dass diese Person unter den vielen Bandagen nicht ihre wirkliche Mutter ist. Doch wer ist das? Und vor allem: Wo ist die richtige Mutter?

Den Clou dieser Geschichte verbergen die beiden Regisseure nicht einmal groß. Sie verfügen allerdings über das Gespür, eine von Beginn an sehr bedrückende, sich ins bedrohliche steigernde Stimmung heraufzubeschwören, die davon sehr gut ablenken kann. Die gewählte, rationale Art der Narration verstärkt diese Atmosphäre und die für Lukas und Elias wachsende Bedrohung und Angst vor diesem Menschen, der sich nach wie vor als Mutter wähnt, wird ausführlich in die Länge gezogen. Erst spät wird die Auflösung, die eigentlich gar keine ist, in einer Szene wieder aufgegriffen. Dadurch wirkt diese, die einzige (radikale) Lösung für Elias und Lukas der Bedrohung Herr zu werden, als noch größer und schockierender. Selbst, wenn man zum Anfang des Films weiß, was los ist.

Ich seh, ich seh punktet mit seiner verschrobenen Art und den sorgfältig gewählten Darstellern. Die beiden Brüder Lukas und Elias Schwarz standen zum ersten Mal vor der Kamera. Sie kommen sehr natürlich rüber, wirklich in ihrem Erscheinungsbild verletzlich und fragil. Susanne Wuest, welche durch die Bandagen nur mit Stimme und Körpersprache arbeitet, leistet ebenfalls eine sehr gute Arbeit. Es liegt in diesem Drei-Personen-Stück ein wenig Lynch in der Luft, auch van Warmerdam fällt einem ein. Fiala und Franz spielen den surrealen Charakter, den die beiden angesprochenen Regisseure in manchen ihrer Filme einweben, nicht groß aus. Die Szene im Dorf, wenn Lukas und Elias durch dieses irren, könnte aber auch gut von diesen beiden sein. Ausspielen tun sie dafür ihr Können, ihre phantastische Story real erscheinen zu lassen, ohne große effekthascherische Art. Es ist schleichender Horror, der in seiner Ausbreitung und der nach und nach eintretenden Gewalt einen gewaltigeren Schock bewirkt.

Vielleicht ist hier auch etwas der Einfluss vom Produzenten Ulrich Seidl zu spüren, dessen Frau Veronika Franz ist. Seidl, unter anderem für Hundstage bekannt, seziert gerne pragmatisch und beobachtend die Charaktere und die Handlung seiner Geschichten. Das steht, wenn auch nicht stark ins Gewicht fallend, Ich seh, ich seh ebenfalls gut zu Gesicht. Seine glatt und nicht greifende Optik ist ein weiterer Pluspunkt, der die Geschichte perfekt zu einem Arthouse-Horror macht, der von beiden Einflüssen profitiert. Diese halten sich gut die Waage und die Art und Weise, wie hier die außergewöhnliche Architektur des Hauses, welches die Familie bewohnt und dessen Interieur eingefangen werden, lässt etwas an Jess Franco erinnern. Das Grauen liegt unter der schicken Oberfläche, hier nicht nur auf das Bild des Films sondern auch auf Handlung des Films bezogen. Auch in der Familie kann der Schrecken einkehren.

Wenn diese, durchgeschüttelt von Ereignissen, eben nicht mehr der Halt der Schwachen und Bedürftigen ist. Ich seh, ich seh geht der Frage nach, wie nun Kinder (als auch die Eltern) mit einem Schicksalsschlag umgehen sollen, wenn dieser so schwer zu verarbeiten ist. Hier noch Halt im Inneren zu finden, bei anderen Angehörigen, kann schwer sein. Der Film zeigt dies, gekonnt verbunden mit einem einfachen wie ebenso effektiv phantastischem Grundrahmen. Kinder sind meistens die schwächsten, wobei auch Eltern doppelt so stark belastet sind. Als Halt für das Kind und gleichzeitig versuchend, für sich selbst das Geschehene zu verarbeiten. Daraus machen Fiala und Franz einen doppelten Horrorfilm. Die (drastische,) langsame Auflösung des Konstrukts der Familie in ihrem Inneren, der mit seiner Steigerung der Gewaltspirale innerhalb dieser sogar grob mit Takashi Miikes Audition verglichen werden kann sowie den Horror des alltäglichen, wenn die gewohnte Routine in der Familie durchbrochen wird. Von einem Schicksalsschlag. Das Horrorfilme gleichwohl den Kopf als auch unsere innere Lust am Grauen und Schrekcne befriedigen können, zeigt Ich seh, ich seh meisterlich. Neben It Follows einer der besten Horrorfilme des vergangenen Jahres.
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