Mittwoch, 28. März 2018

Bone Tomahawk

Man kann dem kurzlebigen, kruden Subgenre des Kannibalenfilms, der in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Leinwände der Kinos bewohnte, einiges vorwerfen. Sie sind pure Exploitation, sensationshaschend und einzig und allein dafür da, durch ein klappriges Grundgerüst an Handlung möglichst viele Abscheulichkeiten zu zeigen. Sie sprengen Tabus aus rein kommerziellem Gedanken, wenn leider in vielen der großen, bekannten Filme selbst vor echter Tötung von Tieren nicht zurückgeschreckt wird. Trotz der einfachen Handlungen transportieren sie darüber eine zweifelhafte Haltung gegenüber Fremden; dem Kannibalenfilm kann man diese hemmungslose Ausschlachtung, den selbstzweckhaften Einsatz von Gewalt um eben die Gier nach Grausamkeiten zu befriedigen sowie eine damit einhergehende xenophobe Grundhaltung vorwerfen. Nicht vergessen sollte man dabei, das der intelligenteste Vertreter des Genres, Cannibal Holocaust, diese Eigenschaften, die er ebenfalls besitzt gleichzeitig anprangert und in Frage stellt, was in den um Sensationen wetteifernden Medien wirklich noch real ist und selbst seinem eigenen Publikum mit seiner Doppelbödigkeit einen Spiegel vorhält.

Allen Widerwärtigkeiten zum Trotz kann man diese Kannibalenfilme auch als eine in der modernen, aufgeklärten Gesellschaft verwurzelte Urban Angst ansehen. Der in ein Stück unberührte Natur eindringende, technisch fortgeschrittene Mensch sieht sich in einer ihm unbekannten Welt, deren Gefahren nicht aus von ihm selbst geschaffenen Situationen oder Strukturen, sondern aus einer Wildnis, einem ursprünglich wirkenden Stück Erde entsteht. Mutter Natur schlägt zurück: ein Motiv, welches schon im aufgeklärten US-Horrorkino seit Beginn der 70er Einzug erhält, als in der Gesellschaft Themen wie Naturschutz immer höheren Stellenwert erlangte. Die Kannibalenepen italienischer Herkunft sind die pervertierte Mutation davon, in dem nun nicht einfach die Tierwelt, sondern gleich unser Ebenbild in einfacher, weniger intelligenter, aber doppelt gefährlicher Gestalt die Gefahr darstellt. S. Craig Zahler greift in seinem Debüt Bone Tomahawk diese Motive teilweise auf, wenn er das uramerikanische Genre des Westerns und die Menschen einer kleinen Siedlung mit urwüchsigen Wilden, die in ihrem Aussehen stark an die Menschenfresser aus Deodatos Meisterstück erinnern, konfrontiert bzw. kombiniert. Die aufs Minimum reduzierte Geschichte ähnelt dabei fast den italienischen Halbvorbildern.

Eine Veterinärin, ein Deputy und ein inhaftierter Landstreicher werden Nachts von zuerst für Indianer gehaltenen Wilden entführt. Der durch einen Beinbruch gehandicapte Mann der Ärztin (überraschend gut: Patrick Wilson), der Sheriff des Städtchens (mit gutem, reduziertem Spiel überzeugend: Kurt Russell), der alternde Deputy-Stellvertreter (grandios: Richard Jenkins) und der dandyhafte Brooder (ordentlich: Matthew Fox) machen sich auf den Weg, die entführten zu befreien. Dringen in den meist in Südamerika spielenden Kannibalenfilme Suchtrupps, Expeditionen, Forscher etc. in den Dschungel ein, um verschollene, fast verschluckte Menschen zu suchen oder zu befreien, wandelt das ungleiche Vierergespann durch eine triste Wüstenlandschaft um zu den Verschleppten zu gelangen. Zahler lässt seine Truppe spät auf den anthropophagen Schlag Menschen treffen. Zuerst wird Bone Tomahawk zu einem Trip, einem Prüfungsgang seiner Protagonisten, die auf ihrem Weg ihre unterschiedliche Wesen und Eigenarten zum gemeinsamen Sinn der Gruppe zusammenfügen müssen. Es ist ein Ritt in eine ungewisse Zukunft, wobei das Schicksal bedrohlich wie ein Aasgeier über sie schwebt. Die vier Reiter bringen nicht die Apokalypse, sie schreiten langsam aber sicher ihrem (persönlichen) Untergang entgegen. Mancher verdammt zu leben, mancher verdammt zu sterben.

Zahler konzentriert sich in seinem Script auf Kleinigkeiten, lässt die erste Prämisse seiner Protagonisten in den Hintergrund rücken und widmet sich wie zu Beginn des Films, der sich die Zeit nimmt, seine Figuren einzuführen (nicht um vorher aber typisch für das Horrorgenre ein Intro zu präsentieren, dass David Arquette und Sid Haig als erstes Opfer der Menschenfresser in deren Gebiet stolpern lässt und prophezeit, was den Hauptcharakteren blühen kann), lieber seinen Charakteren. Leider lenkt das manches Mal zu sehr von der eigentlichen Geschichte ab, aufkommende Konflikte innerhalb der Gruppe flackern manchmal so schwach wie ein langsam ersterbendes Lagerfeuer auf und verschwinden dementsprechend schnell wieder von der Bildfläche. Die schwerfällige Stimmung des Films, sein langsames Gemüt das in ebenfalls ruhigem Tempo die Ereignisse während der Reise steigert, weiß gut davon abzulenken. Leicht schwerwiegender negativ erscheint das Finale, wenn die Truppe im Gebiet der Menschenfresser ankommt. Letztere, die in ihrer bleichen Körperbemalung auch wie fleisch gewordene Schreckensgespenster anmuten, verlieren - abgesehen von den ersten Szenen in deren Höhle - mit steigender Screentime rapide an Bedrohlichkeit.

Das Potential des Unterbaus von Bone Tomahawk wird wortwörtlich schnell über den Haufen geschossen. Die Wilden verkommen zu Kanonenfutter in einer blutigen Reinkarnation der Hauptfiguren, allen voran der gebeutelte Arthur, Ehemann der entführten Frau, den man durch die bisherige Handlung fast abgeschrieben hätte. Die Anklage der auch im traditionellen Western mitschwingenden Xenophobie, verbunden mit seinem zweifelhaften Hurra-Patriotismus, macht Platz für eine leichte Heroenglorifizierung alter Westernschule. Dem Einfluss europäischer Genrefilme darf man danken, dass Zahlers Werk kein Happy End der schwülstigsten Sorte besitzt. Leider schwächt der Regisseur und Autor die Stärke seines Films ab und verwehrt ihm, dass ich in übergroße Jubelstürme ausbreche. Dennoch bleibt mein Fazit wohlwollend. Die minimalistische Handlung wird in den Händen von Zahler und seinem Team vor und hinter der Kamera zu einer weitgehend ruhigen, zweistündigen Reise, die durch ihre tolle Atmosphäre, dem Zusammenspiel der einzelnen Mimen und schöne Dialoge punkten kann. Übrig bleibt die gelungenste Verbindung von Western und Horror und den Verlust der Unschuld des verklärt dargestellten wilden Westens. Die aufsteigende, heranwachsende Zivilisation, von vier gänzlich unterschiedlichen Charakteren repräsentiert, hat mit ihrer vor-industriellen Urban Angst zu kämpfen, wenn die wie Urmenschen aus einer anderen Zeit über sie hereinfällt. Das angestrengte Aufbäumen führt zu einem Sieg mit bitterem Nachklang; für den Aufbau und Weiterbestand der Zivilisation müssen Opfer gebracht werden. Jahrzehnte früher zeigten uns die Italiener einerseits mit dem Italowestern eine vollkommen misanthropische bis nihilistische Version des wilden Westens und mit ihren Kannibalenfilmen den nächsten Versuch, einer mittlerweile industrialisierten, vorangeschrittenen Zivilisation gegen das (letzte?), gewaltsame Aufbäumen der Natur, des eigenen Ursprungs zu bestehen. Zahler lässt beim ganzen Zynismus dieser zwei Genres in seinem sehr gelungenen Debüt ein Stück weit Hoffnung, dass irgendwann alles wieder besser wird und die hier symbolisch schmerzlich und immer nahe gezeigten Wunden seiner Protagonisten, stellvertretend für die heutige Gesellschaft und Menschheit, bei aller immer noch herrschender Gewalt irgendwann einmal wieder verheilt sind.
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