Horrorctober-Film No. 5 und Man vs Nature die Zweite. Das Opus Magnum Neil Marshalls, nach seinem netten Einstand Dog Soldiers und vor dem zu gut gemeinten Doomsday sowie weit vor seinem Abstieg in den Abgrund des TV-Serien-Regisseur-Daseins (im Premium-Segment mit Folgen für u. a. Hannibal oder Game of Thrones) entstanden. Anders als der zuvor im heimischen Lichtspielhaus goutierte Preservation zelebriert der Brite mehr die direkte Konfrontation des kleinen irdischen Lichts, genannt Mensch, mit der übermächtigen Natur. Über weite Strecken ist The Descent mehr ein klassischer Survival-Thriller, in dem Marshall das Machtverhältnis zwischen dem Menschen und dem Planeten, auf dem dieser so viele Jahre verweilt, in beeindruckenden Einstellungen versinnbildlicht. Gegenübergestellt wird eine Gruppe von Frauen, Freundinnen, die Monate nach dem tragischen Unfalltod der Tochter und des Manns von Sarah zusammenkommen um sich ihrem gemeinsamen Hobby zu widmen: dem Überwinden von Naturgewalten.
Wildwasserrafting, Klettern oder Höhlen erforschen: die Freundinnen verbindet diese Liebe, sich in extreme Situationen zu bringen und die Natur dabei zu bewältigen, zu bezwingen. Nichts deutet darauf hin, dass die von Organisatorin Juno ausgesuchte Höhle eine besondere Extreme für die Frauen wird. Es beginnt nach dem Abstieg mit dem Einsturz eines schmalen Tunnels. Bei Sarah bricht das vom Unfall verursachte Trauma langsam wieder auf, Junos eigenmächtige und gegenüber dem Rest der Gruppe verheimlichte Änderung über die ausgesuchte Tour und ein schwerer Unfall mit Knochenbruch steht ihnen zusätzlich im Weg, aus der Höhle hinaus zu finden. Es scheint, als würde dieses Mal Mutter Erde die Herausforderung gewinnen und das der Feind das dünne Nervenkostüm der Gruppenmitglieder sowie das unterirdische, enge Labyrinth aus Gestein und Wasser ist. Dies wird zu einem Abstieg in die Hölle, angedeutet durch einen schönen wie extremen Weitwinkel-Shot, in dem die sich in den Eingang der Höhle abseilenden Abenteurerinnen schrecklich klein und unwichtig erscheinen.
Verschluckt vom Erdendunkel schürt Marshall die Beklemmung simpel wie effektiv mit Lichtspielereien. Die Schwärze ist allgegenwärtig. Sie verschluckt die Protagonisten wie den Zuschauer, der mit diesen zusammen seine Augen durch die dunklen Schleier der Höhle presst. Aus diesem Schwarz blitzen kleine Flecken Licht auf, die uns die Freundinnen beim Erforschen der Höhle zeigen. Das Wechselspiel zwischen bildschirmfüllenden und mit Licht und Dunkelheit spielenden Szenen, perfekt ausgeleuchtet, smart geschnitten, lässt die Atmosphäre förmlich spürbar werden. Die in dunklem Orange und blutigem Rot gehaltenen Bilder lassen im Stil The Descent zur unterirdischen, argentoesken Bilderflut werden. Aus der finsteren Schwärze und dem Höllenrot entsteigt überraschend, ohne das der Zuschauer groß darauf vorbereitet wird, das namenlose Grauen. Der Tiefe perfekt angepasste, animalische Humanoide, welche die Jagd auf das Frischfleisch eröffnen und für die Frauen aus der Höhle eine Todesfalle werden lassen. Dem klaustrophobischen Kannibalenterror entspinnt das Drehbuch ungeheuer intensive Szenen. Nur die im hohen Tempo aufflackernde Hektik bremst die Intensität des Filmes im zweiten Akt des öfteren aus.
Zeit bleibt dennoch kaum, die kleinen Schwächen von The Descent näher zu betrachten. Die weiblichen Figuren sind wie ihre männlichen Epigonen bis auf Hauptfigur Sarah leider eindimensional und einige Nebencharaktere spürbar nur als Futter für die tödlichen Höhlenbewohner existent. Marshalls Idee, mal nicht wie sonst üblich halbwegs gestandene Mannsbilder in den sicheren Tod zu schicken sondern Frauen auszuwählen, bleibt eine tolle, selbst heute noch frische Entscheidung. So steigen seine Figuren, Sarah voran, hinab in ihre eigenen Abgründe, die sie dem Genre geschuldet zu typisierten Charaktere entwickeln lässt, welche auch in männlicher Form im Horror seit Jahrzehnten existieren. Ihr Leidensweg scheint ebenfalls vertraut; Marshall setzt die Versatzstücke clever zusammen und entfacht einen mitreißenden Sog an Spannung und Gewalt. Das nackte Überleben von Sarah und ihren Gefährtinnen kulminiert in explosive Szenen. Terrormovie goes Underground. The Descent packt uns daneben in seiner geschickten Inszenierung bei unseren eigenen Urängsten: Enge,die Dunkelheit, das vermeintlich darin lauernde, namenlose Böse. Marshall kitzelt es aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche und lässt seine Figuren wie den Zuschauer spüren, dass etwas unbekannt schreckliches dort unten lauert.
Kenner Lovecrafts dürften frohlocken. Die in seinen Geschichten heraufbeschworene Stimmung der ständigen Bedrohung wird vom britischen Regisseur geschickt in die Handlung eingewoben und die Kreaturen erinnern in ihrem Aussehen an die Monster in der 1923 entstandenen, schon häufiger verfilmten Kurzgeschichte "Die lauernde Furcht" (Original: The Lurking Fear). Der Brite geht es weniger abstrakt als Lovecraft an und lässt die direkte, rohe Gewalt sprechen. Obwohl The Descent ein Rewatch ist, auf den ich schon länger Lust hatte und die Gelegenheit packte, ihn für den Horrorctober anzugehen und meinen Hang zur Prokrastination damit zu bekämpfen, vergaß ich über die Jahre, wie gut The Descent eigentlich ist. Es schien diesmal so, als habe er sich mit all seiner Größe komplett vor mir entfaltet und bescherte mir das erste große Highlight in der diesjährigen Aktion. Selten schaffte es ein Film hinterher gängige Genremuster mit so viel Können in ein so intensives Erlebnis zu verwandeln.
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